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Sarah Meraner
Veröffentlicht
am 19.07.2024
LabernKommentar zum Hate Speech

Die Ära der Narrenfreiheit

Veröffentlicht
am 19.07.2024
Hate Speech, rechtsradikale Äußerungen und Queerfeindlichkeit in der Öffentlichkeit: Warum hat die Gesellschaft plötzlich absolute Narrenfreiheit? Ein Kommentar.
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Da ist der Politik-Neuling, der im Südtiroler Landtag lässig mit „Steinbruch-Sagern“ auf sich aufmerksam macht und in einem Video ein Foto von Schloss Tirol anzündet, weil es zum Pride Month die Regenbogenfarben auf seiner Fassade zeigt. Da ist der Fußballer, der während eines EM-Spiels mit dem Wolfsgruß (Anm. der Red.: Zeichen der rechtsextremen Gruppe „Graue Wölfe“) seine, wie er es sagt, „Freude ausdrückt“. Da gibt es zig Andrew-Tate-Verschnitte, die auf den Socials zeigen, wie man Frauen am besten unterdrückt und wieder zurück an den Herd schickt. Und da gibt es einen Haufen AfD-ler, die gerne und oft mit rechtsextremen und homophoben Aussagen um sich schmeißen. „Kinder dürften nicht „zum Spielball der sexuellen Neigungen einer lauten Minderheit werden“, sagt zum Beispiel die Weidel (selbst übrigens lesbisch, aber zutiefst queerfeindlich und rechts). Oder der Krah meint auf TikTok schlicht und einfach: „Echte Männer sind rechts.“ Ja, klar.

Liebe Leser:innen, ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in letzter Zeit stelle ich mir immer öfter die Frage, warum zum Teil so zwielichtige Personen mit offensichtlich eingeschränkten sozialen und empathischen Fähigkeiten so viel Narrenfreiheit haben. Im Moment, so mein Eindruck, passiert gesellschaftlich ja ziemlich viel. Auf der einen Seite scheint immer mehr Platz für bestimmte Themen wie Queerness oder Feminismus zu sein und auf der anderen Seite schlägt einem eine gefährliche Welle an Radikalität und Hass entgegen. Seit ein paar Jahren schon ist das Phänomen auf Social Media zu beobachten: ungefilterte Beleidigungen und Hate Speech en masse, fast so, als gäbe es keine Grenzen – und joa, anscheinend gibt es die ja tatsächlich nicht, außer, man zeigt sie den Kommentator:innen mal ganz klar juristisch auf (auch wenn es schon länger her ist: High Five, Frau Foppa!). Doch: Die Menschen sind „mutiger“ (und damit meine ich eigentlich schamloser) geworden. Mittlerweile stehen viele ganz offen zu menschenfeindlichen Parolen und Gesten.

Vermutlich haben die Anti-Queers Angst, dass sie vor lauter Glitzer und Toleranz anfangen müssen zu niesen oder einige von ihnen sind halt einfach traurig, weil Regenbögen die Farbe Braun nicht in ihrem Farbspektrum aufweisen.

Lieblingsopfer der Schreier:innen? Da hätten wir als altbewährte Klassiker natürlich die ausländischen Menschen, Frauen of course und – gerade besonders in – queere Personen. Von ihnen scheint momentan nämlich eine ganz extreme existenzielle Bedrohung der Menschheit auszugehen. Für Krah (schon wieder der) sei die Regenbogenfahne „das wahre Zeichen dessen, was wir heute als ‚westliche Werte‘ bezeichnen: Identitätspolitik für winzige sexuell definierte Minderheiten auf Kosten der Mehrheit, Hass auf die eigene Tradition und Kultur, Ablehnung der Familie.“ Hmm … Vermutlich haben die Anti-Queers Angst, dass sie vor lauter Glitzer und Toleranz anfangen müssen zu niesen oder einige von ihnen sind halt einfach traurig, weil Regenbögen die Farbe Braun nicht in ihrem Farbspektrum aufweisen. Ja, ist Scheiße, kann man aber nichts machen. Also packt euer Feuerzeug wieder ein und verkraftet das Symbol der Vielfalt doch bitte einfach. Tut auch nicht weh.

Sorry für nichts
Was wird wohl das Ende dieser Gesellschaft sein? Die Wimperntusche eines Mannes? Die Frau, die gleichberechtigt leben möchte? Die Amputation von Brüsten eines Transmannes? Der Ausländer:innenanteil in den Schulen? Ein Kuss zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen? Oder ist es etwa: Absolut gar nichts von alldem? Davon bin ich überzeugt. Weil es doch wirklich absolut jedem und jeder sowas von egal sein kann, wie jemand anderes lebt, sofern niemand dabei zu Schaden kommt.

Dass das viele Leute nicht so sehen, zeigt auch folgendes persönliches Beispiel: Für ein Lokalblatt habe ich einen Artikel über Queerness geschrieben – daraufhin haben mehrere Leute die Zeitung abbestellt. Wegen der „Schwulenpropaganda“, meinte einer. Und weil wir „unsere Kinder damit verwirren“ würden. Wie, wo, was? Womit genau? Mit der Message, dass jede:r so sein und leben darf, wie er/sie es möchte und für richtig hält? Ich möchte mich hier und jetzt entschuldigen: Pff … für gar nichts! Aber ich möchte mich bedanken: dafür, dass sich diese Abonnent:innen verabschiedet und mich darin bestärkt haben, noch mehr und immer wieder im Sinne der Sichtbarkeit von Minderheiten und der Gleichberechtigung aller Menschen zu schreiben. 

Meinungsfreiheit gut und recht, aber darf sich denn jeder Bullshit unter dieses Deckmäntelchen reinkuscheln?

Zu viele What the fucks
Schon gehört? US-Präsidenten dürfen nun laut Oberstem Gerichtshof während der Ausübung ihrer Tätigkeiten eine weitreichende Immunität genießen (Trumps Jackpot!). AfD-Parteichef Björn Höcke ist zum zweiten Mal wegen einer verbotenen Naziparole zu einer Geldstrafe – ich betone Geldstrafe – verurteilt worden (und das zieht absolut keine weiteren Konsequenzen nach sich). Der „saluto romano“ in Rom vor einigen Monaten war anscheinend und laut Gericht total rechtens (hüstel). Und hierzulande hat JWA offensichtlich seine greaschte Hetz daran, altbewährte, nationalsozialistische Muster aufzugreifen, um Hass zu schüren und zu provozieren – die Liste an „WTFs“ ließe sich noch weiterführen, aber so viele Bulletpoints möchte ich eigentlich nicht für solche Absurditäten verschwenden. Und ja, ganz ehrlich: Auch wenn ich mich auf den sozialen Netzwerken so umschaue, weiß ich angesichts misogyner, ableistischer, ausländer- und queerfeindlicher Inhalte und Aussagen in den Kommentarspalten manchmal gar nicht, ob ich aus Frustration und Ungläubigkeit lachen, weinen oder schreien soll oder alles gleichzeitig. Soziale Gerechtigkeit? Fehlanzeige. Meinungsfreiheit gut und recht, aber darf sich denn jeder Bullshit unter dieses Deckmäntelchen reinkuscheln? Wann, ja wann sind wir denn in dieser Ära der uneingeschränkten Narrenfreiheit gelandet? Und finden wir da je wieder raus?

Warum werden solche inakzeptable Inhalte, Aussagen und Aktionen in unseren (noch) demokratischen Gesellschaften einfach hingenommen? Warum ist es ok, frei Schnauze alles an Idiotien und Hate rauszupulvern? Ich verstehe es nicht. Schranken in Form von symbolischen roten Linien, ein paar Euroscheine und ein „Lass die doch reden, das bringt doch eh nichts“ sind doch schon lange nicht mehr genug. In der Zwischenzeit laufen „die“ mit modischen Pflasterlen am Ohr rum, um ihren aufsteigenden „Ungeziefer-Vernichter“ wieder an die Spitze zu bringen. Nein … Insgeheim braucht es neben klaren Sanktionen wohl ein gesellschaftliches Wunder, damit wir wieder einen anderen Weg einschlagen. Noch mehr Aufklärung. Noch mehr Toleranz. Ein paar lautere Gegenstimmen wären auch nicht übel. Und bitte noch mehr Glitzer und Regenbögen, sonst sind diese ganzen Absurditäten ja gar nicht mehr auszuhalten.

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