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Viele halten Augmentierte Realität für die Zukunft intelligenter Städte – ja für deren künftige Norm. Kunst geht im Aufzeigen von Anwendungsmöglichkeiten solch „gesteigerter Realität“ im öffentlichen Raum voraus – um Potentiale zu testen und gesellschaftliche Veränderungen aufzuzeigen, die mit dieser und verwandten Technologien verbunden sein können. Begonnen hat damit unter anderem die Ars Electronica Linz in den 1990er Jahren – viele folgten. Mittlerweile experimentieren Städte und Kommunen spektakulär und öffentlichkeitswirksam damit, vor allem mit öffentlichen Lichtprojektionen. So wurde das Festival der Lichter in Brixen, Südtirol, vom 24. April bis 12. Mai von manchen, über die künstlerische Anwendung hinaus, als vorausweisende Demonstration der künftigen Normalität augmentierter Realität im Alltag interpretiert. Wird diese neue Normalität kommen? Und: Wollen wir sie überhaupt?
Dinge mit Information „aufwerten“
Neben mittlerweile zahllosen ähnlichen Veranstaltungen – wie etwa dem jährlichen Berliner „Illuminationsfestival“ „Festival of Lights“ oder dem „Bella Skyway Festival“ im polnischen Thorun – hat es zuletzt das Festival der Wasser-Lichter (Water Light Festival) in Brixen besonders anschaulich gezeigt: die „augmentierte Realität“ kommt im Alltag „intelligenter“ Städte an – und könnte diese bis zur Mitte des Jahrhunderts prägen, wenn nicht gar dominieren.
Augmentierte Realität (AR) ist das Verfahren, die „normale“ Wahrnehmung von Objekten mittels technologischer Projektion mit Information anzureichern. Dabei bleibt – im Unterschied zur Virtuellen Realität (VR) – die Wahrnehmung des realen Objekts erhalten. Die Projektion von mit Licht gestalteter Information, zum Beispiel Bilder, Farben und Schrift, erfolgt in Echtzeit auf das Objekt. Das kann zum Beispiel mittels einer Brille erfolgen, durch die dem Auge die Information über das Objekt, das man sieht, „hinzugegeben“ wird. Oder sie kann mittels Lichtprojektion per Laser direkt auf das Objekt erfolgen, sodass der Gegenstand die Information durch die Bestrahlung auf der Oberfläche dazugewinnt, was wie eine Art lebendige, bewegte Bemalung aussieht. In beiden Fällen verschmelzen die Dinge mit der dazugegebenen menschlichen Interpretation. In der Wahrnehmung des Betrachters werden Ding und Interpretation für den Akt der Betrachtung eins.
Die Dinge „beschreiben“ – im wahrsten Sinne des Wortes
In Brixen wurde von diesen beiden Ansätzen die zweite Variante: die „Bemalung“ mit bewegtem Licht und filmartigen Erklärsequenzen gewählt. Künstliche Intelligenz steuerte in Brixen dreidimensionale Lichterzählungen millimetergenau, indem sie bewegte Bild-Reflexionen auf Gebäude warf. Dabei wurde die Dreidimensionalität der physischen Gebäude für dreidimensionale Optiken von Lichtzugaben genutzt. So warfen 3D-Lichtprojektoren Kunstwerke auf Gebäude, die die tiefenambivalente, gespaltene Zeitstimmung wiedergaben – so zum Beispiel ein gefährliches, unheimliches Spinnennest auf einem Gebäude, dem auf einem anderen Bauwerk Bilder mit der Sehnsucht nach sicheren traditionellen Werten gegenüberstanden, darunter Frauen in antiken Tätigkeiten. Die 3D-Projektionen erzählten aber auch die jahrhundertelange, wechselhafte Geschichte von bestimmten Gebäuden in lebendigen Bildfolgen. So zum Beispiel den Brand eines Gebäudes, indem das Gebäude durch die Lichtprojektion zu brennen schien. Aufgrund der höchst genauen Technologie erfolgte das täuschend echt und akribisch angepasst an das reale Gebäude. Der Brand ereignete sich, wie es dem Betrachter schien, direkt auf dem Gebäude – und sogar in ihm.
Bei alledem schnitten die Licht-Projektionen die Bildfolgen-Gedanken jeweils ganz auf das individuelle Gebäude zu, „kontextualisierten“ sie also hypergenau – so dass die Gebäude wie aus sich selbst heraus zu sprechen begannen. Sie erzählten sich dem Betrachter, ohne Worte, nämlich urwüchsiger, brachialer und tiefer: in Bild-Gedanken und Gefühlen, oft durch Musik verstärkt.
Dinge und Interpretationen verschmelzen: Vermenschlichung oder Manipulation?
Ergebnis: Gebäude und Information, Stein und Interpretation wurden in der Projektion eins. Materielle und immaterielle Realitäten verschmolzen. Es entstand jene „neue Immaterialität“, von der die Philosophie der 1980er Jahre träumte (so zum Beispiel der wichtige französische Philosoph Jean-Francois Lyotard) – eine Immaterialität jedoch, die auf und in der Materie für alle sichtbar war. Das Gebäude begann „menschlich“ zu sprechen – jedoch von Gnaden fortgeschrittener Technologie.
Eben diese „Vermenschlichung“ der Realität durch Hochtechnologie erzeugte einen zeitgenössischen Geschmack – weil „Vermenschlichung durch Hochtechnologie“ sich bis zu einem gewissen Grad wie ein Widerspruch in sich anfühlt. Es entstand ein ambivalentes Gefühl, das für die Gegenwart charakteristisch ist. Wie oft in ihrer Geschichte wies die Kunst hier in eine mögliche Realität der Zukunft voraus.
In Zukunft wird mittels KI-Präzisions-Laserprojektion über Kunst und Festivals hinaus vieles, wenn nicht – im Prinzip, dem Potential und der Verfügbarkeit nach – alles augmentierte Realität sein. Und die Realität, die schweigt, wird aussterben. Wahrscheinlich ist: Durch Licht-Überschreibung wird die immaterielle Sphäre gegenüber der materiellen wichtiger. Menschliche Gedankengänge und Dinge werden sich sichtbar und vor allen Worten miteinander verbinden, und das geschriebene Wort wird demgegenüber weniger Kraft bewahren. Menschliche Gedanken werden die Realität mittels „Bild-Überschreibung“, oder genauer: „Wahrnehmungs-Überschreibung“ sinnlich überall erfüllen.
Das wird die Realität aber auch manipulierbarer machen. Es findet eine Vergeistigung der Dinge statt, die aber droht, die Dinge selbst, so wie sie sind, verschwinden zu lassen – und die Welt mit Menschlichem zu überfüllen. Die Vermenschlichung der Welt durch die Symbiose von Gedanke und Ding ist zwar eine Vermenschlichung, aber nicht notgedrungen eine Humanisierung.
Vier Warnungen
Was wird aus der Welt der „nackten Dinge“ werden, wenn wir sie künftig überall „augmentieren“?
Wahrscheinlich ist, dass wir uns dann wieder nach den „nackten Dingen“ sehnen. Weil diese nicht verschieden „beschrieben“ sind und sich die Information auf ihnen wandelt, sondern sie einfach sie selbst sind: eine einfache Identität in sich selbst, die nicht „gesteigert“ werden kann oder muss – vielleicht nicht einmal erzählt werden soll. Die Dinge, die einfach da sind, nackt und stumm, ohne Sprache als die ihrer eigenen Präsenz, könnten in der kommenden über-augmentierten Welt zum Wertvollsten für die Menschen werden. Denn sie lassen ruhen, erzeugen Beziehung zwischen mir und dem Ding, weil beide getrennt da sind und sich zueinander verhalten müssen. Beziehung fällt in den „augmentierten“ Realitäten völlig weg, denn die Lichtprojektion mit Information macht sie überflüssig, da sie ja das Objekt auf einen Schlag sofort „durchsichtig“ macht. Ein „Zusammensein“ ist unnötig, vielmehr geht es um Durchdringung und Aneignung hier und jetzt, ohne Umwege.
Deshalb liegt in der augmentierten Realität auch ein Stück Gewalt, ja Vergewaltigung des Realen. Diese Haltung könnte sich, wenn sie zum Alltag wird, negativ auf die Gesamtkultur auswirken. Denn sie färbt mit der Zeit ohne Zweifel auf andere Bereiche von Verhalten, Realitätszugängen und Wertehaltungen ab. In Summe sind – mindestens – vier negative Effekte zu befürchten.
Diese Einwände gelten nicht für Kunstprojektionen wie beim „Festival der Lichter“. Sondern sie gelten für das – dort nur exemplarisch vorgeführte – Eindringen der augmentierten Realität in den Lebensalltag. Künstlerische Gestaltung führt – wie in Brixen – vorbildlich, und vor allem: vorübergehend, also für einen bestimmten, begrenzten Zeitraum, direkt vor Ort und individuell erfahrbar die Palette von Chancen und Problemen vor Augen, die mit Augmentierter Realität im öffentlichen Raum verbunden sind. Deshalb ist Kunst gerade auf dem Feld neuer Technologien unverzichtbar, um die gesellschaftliche Diskussion anzustossen und auf konkreter Grundlage führbar zu machen. Kritisch bedacht werden sollte deshalb nicht die Kunst, die im Gegenteil – in Zusammenarbeit mit den Veranstaltern – große Verdienste der experimentellen Vorführung des Neuen hat, die weiterwirken wird. Sondern kritisch bedacht und begleitet werden sollte die – bis auf weiteres großteils ungeregelte – Ausbreitung neuer, „realitätshybrider“ und realitätsverändernder Technologien im öffentlichen Raum der kommenden Jahre.
Perspektiven:Das Schweigen der Dinge retten
Der Zweischneidigkeiten sind also, bei allem Fortschritt, viele. Vielleicht sollten wir künftig statt von „augmentierter Realität“ lieber von „augmentierten Realitäten“ sprechen, um die Individualität und Einzigartigkeit, aber auch die Selbst-Verantwortlichkeit jeder einzelnen Projektion zu betonen, die nicht verallgemeinert werden kann. Zu erwarten ist, dass sich das Blatt der Begeisterung nach einigen Jahren der Überfütterung ins Gegenteil wendet. Eine Welt, in der alles augmentiert und von – letztlich individuellen – menschlichen Gedanken überfüllt ist, wird nach einer Sättigungsphase außerhalb beruflicher und technischer Anwendungen möglicherweise niemand mehr wollen.
Sicher ist: Es gilt, auch das Schweigen der Dinge – der „wirklichen“, nackten, noch nicht augmentierten Dinge – zu retten. Wie kann das geschehen? Durch natürliche „Reservate“ außerhalb der augmentierten Realitäten? Das wäre zu wenig. Letztlich zwingt uns die Hypertechnologie dazu, unser Verhältnis zur nicht technisierten Natur zu überdenken – und vielleicht auch neu zu denken. Der Unterschied zwischen „natura naturans“ – der noch nicht von Menschen berührten Natur – und „natura naturata“ – der von Menschen beeinflussten Natur – wird immer wichtiger. Zwischen diesen beiden Polen wird sich ein guter Teil der Zukunft des Verhältnisses zwischen Wahrnehmungen und Dingen – und zwischen Mensch und Natur entscheiden.
Gastbeitrag von Roland Benedikter
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