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Das mit der Moral ist bekanntlich so eine Sache. Sie zu predigen ist leicht, sie zu begründen schwer, das wusste schon Schopenhauer. Aber was Schopenhauer und Epiktet nur vorsichtig vermochten, vermag eine halbe Million Südtiroler*innen problemlos und zur Not vom Liegestuhl aus — nämlich zu erkennen, was moralisch richtig und was falsch ist und vor allem, wie man mit Fehlern umgeht: Die vier Lokalpolitiker, die um den Corona-Bonus angesucht haben, müssen beispielsweise nach der hiesigen Kollektivmoral öffentlich geshitstormed werden und ordentlich büßen, weil man selbst emotional so durchgespült von diesem Kackjahr ist, dass man jetzt auch mal die Elite leiden sehen will.
Nun bin ich die Letzte, die Privilegierte verteidigt. Ich weiß, was es heißt, auf Leihbücher und Leistungsstipendium angewiesen zu sein, und weiß, wie viel Geld 600 Euro sein können. Ich kenne die Wut und die Ohnmacht der Armut, wenn die Mutter das Geld für den Schulausflug der Kinder zusammensparen muss und kein Anrecht auf Förderungen hat, obwohl ihr Rücken schon krumm von der ganzen Arbeit ist und das Gehalt nicht bis zum Monatsende reicht. Das ist nicht gerecht. Und es ist nicht gerecht, dass Politiker*innen horrende Fahrtspesen mit der ewigen „Steht-mir-halt-zu“-Begründung einsacken, von den Fantasie-Renten ganz zu schweigen. Aber was diesen Corona-Bonus angeht, der im Unterschied dazu nicht eine Privilegiertenleistung ist, sondern nach dem Gießkannenprinzip über alle ausgegossen wurde, nun, da fürchte ich, da verrennen wir uns gerade in etwas.
Natürlich war es unachtsam. Die Boni waren ja für jene gedacht, die in akute Geldnöte gekommen sind und nicht für jene, die munter weiterverdienen — aber die Krux an der Sache war, dass vom zahlungsfähigen Zahnarzt bis zum feisten Finanzier formal potenziell auch Milliardäre ansuchen durften. „Hier hätte es das moralische Feingefühl gebraucht, ob ich nicht nur formale Kriterien erfülle, sondern auch tatsächlich durch die Corona-Krise in eine finanzielle Lage gekommen bin, in der ich diese Unterstützung brauche“, sagt Professor für Moraltheologie Martin M. Lintner, den ich kontaktiert habe, weil das mit der Moral ja insgesamt sehr kompliziert ist, aber wenn’s hier bei uns einer weiß, dann er.
Der Paul, also doch ein Mensch aus Fleisch und Blut, der nicht nur von Luft und Liebe lebt…
Nun ist bei einer staatlichen Leistung, die den akribischen moralischen Selbstcheck aller voraussetzt, damit die „richtige“ Zielgruppe und nicht die falsche davon profitiert, vorprogrammiert, dass das in die Hose gehen wird. Unter anderem, weil viele Steuerberater*innen pauschal allen Kund*innen geraten haben, anzusuchen — mehr als abgelehnt konnte der Antrag ja nicht werden. Und weil natürlich viele von sich aus ansuchten, ohne tatsächlich betroffen zu sein. Ein an sich nachvollziehbarer Mechanismus, aber „eine falsche Mentalität, die dem Solidargedanken widerspricht“, sagt Lintner, „weil die Boni sozusagen ein Akt der Verantwortung aller gegenüber Einzelnen in einer Notsituation sind“. Womit wir wieder beim Ausgangsdilemma der unklaren Voraussetzungen wären, denn wo jedermann ansuchen darf, sind die Ärmeren auf die Solidarität der Reicheren (und ab wann ist man eigentlich reich?) angewiesen. „Auf Solidarität habe ich aber keinen Rechtsanspruch“, bringt es Prof. Lintner auf den Punkt.
Nur weil’s rechtens war, richten wir natürlich trotzdem – und zwar nach der in Südtirol so großzügig verbreiteten Moral. Besonders Paul Köllensperger kriegt es ab, auf seiner FB-Seite tobten sich zig „verletzte“ Südtiroler*innen aus und beklagten fassungslos den Verlust ihres Vertrauens. Gebrochene Herzen, Tränen auf der Tastatur, zuerst Pandemie, jetzt auch noch das, das hält man ja im Kopf nicht aus! Hätte man die Ehefrau in flagranti mit einem anderen erwischt, es hätte einem nicht schlimmer treffen können, als dass der Paul für diesen Bonus, nach dem man selbst natürlich auch schon gegriffen hat, aber der einem nach eigenem Ermessen eben viel mehr zusteht als dem Politiker („zu reich!“), aber gewiss auch mehr als dem arbeitslosen Ausländer („inser Geld!“), angesucht hat. Weil man bei Paul sonst keine Vergehen findet, sondern jener im Gegenteil bekanntlich in der Vergangenheit auf die Hälfte seines Gehalts und regelmäßig auf die gesamten Fahrtkosten verzichtet (im Gegensatz zu den Kollegen Lanz und Tauber), immer mal wieder was spendet und für ein sozialliberales Lüftchen im Land sorgte — was jetzt selbstverständlich alles nicht mehr gilt — wiegt dies umso mehr, finden die Menschen in der Achterbahn ihrer politischen Gefühle.
Der Paul, also doch ein Mensch aus Fleisch und Blut, der nicht nur von Luft und Liebe lebt, man hätte es wissen müssen! Ab jetzt muss man wirklich mit allem rechnen, möglicherweise sammelt er auch Treuepunkte bei der Spar und kriegt den letzten Dampfgarer, der natürlich eigentlich Ihnen zusteht.
Spontan fielen mir mindestens zweieinhalb Gründe ein, warum Schuler zurücktreten könnte — der Bonus gehört da allerdings nicht dazu.
Doch wie man’s macht, macht man’s verkehrt: Auch eine bereits schmutzige Weste hält die Kugeln von links wie rechts nicht ab, wie man bei den Kollegen der SVP sieht, denen nun die Bandbreite sämtlicher Vorgänger-Vergehen von Kabinett Magnago I bis Kompatscher II um die Ohren fliegen, wobei sich gesellschaftspsychologisch tatsächlich eine signifikante SVP-orientierte Resignation beobachten lässt, weil sich viele nach dem Rentenskandal nun schulterzuckend fragen, was die ganze Aufregung eigentlich soll. Wusste man eh schon („Saubande, ollemitanond!“) und muss das nun wirklich in diesem offensichtlich von Tarantino inszenierten Jahr ausgerechnet in der Ferragostourlaubswoche sein?
Dabei ist das mit dem Vertrauen schon interessant: Da wird in Italien korrumpiert, geschmiert, erpresst, gewaschen und getürkt, was das Zeug hält, Millionen Steuern hinterzogen, Wettbewerbe fingiert, Mafiosi geschützt, Interessenskonflikte übersehen, Medienlandschaften aufgekauft — und der Plebs verliert wegen 600 über das INPS-Portal angesuchter Piepen sein „Vertrauen“. Ich persönlich bin etwa hochgradig beunruhigt, wenn Politiker Richter bestellen oder in der Gemeindepolitik eine Handvoll Geschirrverkäufer und Gastwirte ohne Partizipation und Expertise das Verkehrsnetz planen wollen, aber nicht, wenn im kopflosen Krisenmanagement eines überforderten Staates ein dämliches Fördersystem im Gießkannenprinzip alle und halt auch ein paar Besserverdiener*innen begießt. Schön ist das natürlich auch nicht, aber irgendwie macht mir die Korruption und der Klimawandel da mehr Sorgen.
Spontan fielen mir außerdem mindestens zweieinhalb Gründe ein, warum etwa Schuler von mir aus ruhig zurücktreten könnte — der Bonus gehört da allerdings nicht dazu. Es ist letztlich niemand zu Schaden gekommen, im Gegenteil zur Korruption übrigens, die in Italien mit 60 Milliarden Euro (2014) so viel frisst wie in allen anderen 27 EU-Ländern zusammen — das sollten die in Südtirol urplötzlich so zahlreich vorhandenen metaethischen Kognitivisten in ihrer utilitaristischen Bewertung nicht vergessen.
“Diese Shitstorms bedienen vielmehr niedrige Instinkte, als dass sie Gerechtigkeit schaffen.”
„Empörung ist ein wichtiges moralisches Empfinden gegen Unrecht“, sagt Lintner, „doch tragen diese Shitstorms Züge des Sündenbockmechanismus, hier geht es um Anprangern und Demütigen, nicht jedoch um Überwindungen dessen, was empört. Diese Shitstorms bedienen vielmehr niedrige Instinkte, als dass sie Gerechtigkeit schaffen.“ „Es mangelt an Sachlichkeit und Respekt,“ stellt er diplomatisch fest und ein bisschen fehlt es auch an Verstand, ergänze ich undiplomatisch, wenn man etwa wegen dem Arnold jetzt dem Philipp blöd auf seiner Pinnwand kommt oder bei den Gemeinderatswahlen den Alessandro wegen dem Paul nicht mehr wählt. Das nennt sich „Sippenhaft“ und das ist zum einen seit der NS-Zeit moralisch eher out und zum anderen ist das Pauschalisieren als kognitive Leistung eine tolle Sache im Kleinkindalter, als Wahlberechtigte*r sollte man jedoch im besten Fall bereits über die fortgeschrittenen kognitiven Kniffe „abstrahieren“ und „reflektieren“ verfügen.
„In den Sozialmedien werden hier und in vielen anderen Fällen Aggressionen gebündelt und auf andere Menschen übertragen, und zwar in einer Weise, die von der Sache her nicht gerechtfertigt ist“, sagt Lintner. Gar einiges scheint dieser Tage nicht gerechtfertigt, aber spätestens wenn ein Pöder auf seiner FB-Seite Sophie (!) Scholl (!) zitiert („Der größte Schaden entsteht durch die schweigende Mehrheit“), wird man den dumpfen Verdacht nicht mehr los, dass die größten Moralisten eventuell die übelsten Heuchler sind: Pöder, der vor einem Jahr vom Rechnungshof zur Rückzahlung von 28.635 Euro verurteilt worden ist, weil er das Verbraten von 120.000 Euro nicht belegen konnte (das Meiste war immerhin schon verjährt, puh!), turtelte bekanntlich gern mit Rechtsradikalen und nannte den Präsidenten des Zentralrates der Juden ein „Arschloch“. Und apropos moralisch verwerflich: Auch sämtliche Leghistas täten gut daran, zu schweigen, denn die gute alte Lega hat bekanntlich 49 Millionen Probleme, die 600 Euro der Anderen sind keines davon — wohl aber die 600.000 Euro, die sie jährlich an Korruptionsstrafe an den Staat zurückzahlen müssen.
Nun ist das gesellschaftliche Zusammenleben niemals ohne Reibung und es etabliert sich in allen sozialen Systemen eine bestimmte Fehlerkultur, also eine Art und Weise, Fehler zu betrachten, zu bewerten und damit umzugehen. Was nach langweiliger Univorlesung klingt, bedeutet: Dass alle — Sie, liebeR LeserIn, natürlich ausgenommen — Fehler machen und ja, auch unsere politischen Vertreter*innen (und sogar unsere Ärzt*innen und Busfahrer*innen), ist notwendigerweise wahr und wenn wir menschliche Vergehen partout nicht wollen, müssen wir nächstes Mal einen Rasierer oder eine Stehlampe in den Landtag wählen. Die machen dann zwar auch sonst nichts, aber immerhin keine Fehler und haben erfreulicherweise eine höhere Anwesenheitsquote als mancheR Landtagsabgeordnete*r.
„Wir bräuchten in unserer Gesellschaft tatsächlich einen neuen Umgang mit Fehlern“, sagt Lintner. „Fehler werden gemacht, das ist menschlich, aber man muss einem Menschen die Möglichkeit geben, sich zu entschuldigen und etwas auch wieder gut zu machen und irgendwann auch gut sein zu lassen, ohne dauernd darauf herumzureiten.“ Und er erklärt noch etwas, von dem ich glaube, dass es uns dringend mal wieder jemand erklären muss: „‘Entschuldigung‘ bedeutet, dass ich einen Fehler einsehe, er mir leidtut und ich dafür um Entschuldigung bitte“. Man wird — soviel ist für uns alle sicher — in seiner unzulänglichen Menschlichkeit falsche Entscheidungen treffen. Aber, und das ist die eigentliche Messgröße: Man kann sie auch revidieren.
„Wenn eine Entschuldigung eher eine Selbstrechtfertigung ist, ist sie keine Entschuldigung mehr“
Das mit der Entschuldigung ist ja eigentlich ganz einfach, wenn es nicht so schwer wäre. „Wenn eine Entschuldigung eher eine Selbstrechtfertigung ist, ist sie keine Entschuldigung mehr“, sagt Lintner. Klassischerweise funktioniert also Eingestehen und Beheben am besten, während der auch bei meinen Kindern viel beliebtere Klassiker „Anderen die Schuld in die Schuhe schieben“ eine deutlich geringere Erfolgsquote in der Politik und auch im Privaten hat. Wie haben das die vier Betroffenen gehandhabt?
Köllensperger hatte seinen Fehler bereits vor Öffentlichwerdung erkannt, hatte die Gelder zum Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits zurücküberwiesen und entschuldigte sich unumwunden, ohne die Schuld auf Andere zu schieben. Tauber hat erstmal noch etwas ungeschickt nach vermeintlich einfacheren Lösungen getastet, bevor er einknickte und erklärte, dass er manchmal „mehr als Unternehmer denke, weil er als Politiker noch jung sei“. Das nun finde ich persönlich eine schöne Einsicht und als Noch-Jüngere hoffe ich, dass er die Gestaltung des Hofburggartens in Brixen dann ab jetzt auch jenen überlässt, die mehr so als Stadtplaner- und Gemeinwohlexpert*innen denken.
Von den anderen beiden, die außer Häme sowieso keinen Cent abgekriegt haben, schluderte sich Schuler überrumpelt in die schwindlige Spendensache und hängt da jetzt irgendwie fest, und auch wenn ich für Lanz eigentlich keine Lanze brechen wollte, so scheint dieser vom Ansuchen durch seinen Steuerberater eventuell wirklich nichts mitgekriegt zu haben. Und das finde ich persönlich nicht ganz abwegig. Ich beispielsweise mag meinen Steuerberater, aber immer, wenn er mir Steuersachen erklärt, stelle ich heimlich auf Durchzug und denke an lustigere Dinge wie Forschungsergebnisse und Kinderreime, mache Zehengymnastik in meinen Schuhen und hoffe, dass er schon irgendwie das Richtige machen wird und mich nicht schimpft, dass ich alle Arztrechnungen in einem Marie-Kondo-Anfall („didn’t spark me“) geschreddert habe.
Ich verstehe diese Wut. Wer jetzt „Wegtreten“ schreit, will ja einfach nur, dass diese schrecklich unfaire Umverteilung weggeht.
Aber zurück zu unserer Fehlerkultur: Welche Reaktion nun mehr Selbstrechtfertigung als Entschuldigung ist, darf der/die mündige Bürger*in für sich selbst entscheiden und dabei nicht vergessen: Der Umgang mit den Fehlern macht den Unterschied — denn Fehler gehören letztlich dazu. Erinnern Sie sich an den unsäglichen Rentenskandal, bei dem es ja tatsächlich auch um was ging, nämlich um Millionen? Wenige haben sich entschuldigt, im Gegenteil, die „Mir-steht-das-aber-zu“-Haltung brachte rund 60 Politiker*innen siegessicher bis vor’s Verfassungsgericht, wo sich die Richter dann bekanntlich fragten, ob es den größenwahnsinnigen Altmandatar*innen inzwischen komplett den Vogel rausgehauen hat. Also verdrießen Sie nicht. Es geht was weiter. „Die Rede von unentschuldbarem Vergehen im Zusammenhang mit den 600-Euro-Boni halte ich für maßlos überzogen“, so auch Moraltheologe Lintner dazu. Und wir Moral-Laien glauben jetzt in Wirklichkeit ja auch nicht, dass die, die sich ernsthaft bereichern wollen, das über das INPS-Portal machen, oder?
Moral ist, was alle glauben zu haben — auch wenn es in Wirklichkeit nur ganz viel Wut ist. Und ich verstehe diese Wut. Wer jetzt „Wegtreten“ schreit, will ja einfach nur, dass diese schrecklich unfaire Umverteilung weggeht. Diese Ungerechtigkeit, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Dass Individualinteressen vor Gemeinwohl gestellt werden. Und ich bin zuallererst für die ganz große Umverteilung, weil es nicht sein kann, dass eine Handvoll reicher Familien soviel hat wie die ganze ärmere Hälfte der Bevölkerung und dass die neuerdings als systemrelevant erkannten Berufe die schlechtbezahltesten sind.
Aber dieser Coronabonus ist dabei weder Lösung noch Problem, er ist schlicht nichtig. Er ist kein Rentenskandal, er ist kein Korruptionsverbrechen und keine Lewinsky, sondern zuvorderst das schlechte Krisenmanagement eines Staates, der überfordert mit der Gießkanne angelaufen kam, als das Volk Zeter und Mordio schrie. Und dass die Leute so schnell kein Geld mehr hatten nach ein paar Wochen Lockdown, dass da oben so viel ist und unten für die breite Masse so wenig bleibt, ist die Konsequenz einer systematisch vernachlässigten Sozialpolitik und nicht die Schuld Einzelner, die mal einen Miniausrutscher hingelegt haben, an dem sonst niemand Schaden genommen hat. Gute Sozialpolitik kann nicht auf die freiwillige Solidarität der Besserverdienenden angewiesen sein, die sich zurückhalten, damit die Ärmeren auch mal was kriegen, und denen man dann die ganze Systemschuld gibt, wenn sie unachtsam auch mal ein Formular ausgefüllt haben. So einfach ist es nicht. Sie sind nicht das Problem. Und daran sollten wir denken, wenn wir den ersten Stein werfen. Denn werfen kann man den schon mal — aber dann muss man auch wissen, wohin.
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