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Luis Durnwalder war von 1989 bis 2014 Südtiroler Landeshauptmann. In diesen 25 Jahren, in denen er Südtirol wie eine Art Monarch regierte, war das Wirtschaftswachstum seine fixe Idee. Tatsächlich haben wir uns wirtschaftlich erheblich weiterentwickelt, allerdings ohne einen vernünftigen Plan dahinter – es wurde einfach nur immer mehr gebaut und wie verrückt gearbeitet, um die Schulden zu bezahlen. Die alten, holzgetäfelten Südtiroler Stuben machten Wohnzimmern mit Holzpaneelen und Plasma-TVs Platz. Die Täfelung endete als Feuerholz und die Lampenschirme, die früher einmal die schweigend beim Essen sitzende Familie in warmes Licht getaucht hatten, wurden durch kalte Deckenstrahler ersetzt. Bergbauernhöfe wurden abgerissen, um Platz für viel zu viele und viel zu gleichförmige Gästehäuser zu schaffen.
In den Kaffeebars tauchten gleichzeitig mit dem sizilianischen Magenbitter Averna und den Aschenbechern mit Jägermeister-Logo auch die von der Brauerei Forst gesponserten Neon-Beschriftungen auf. All das ist noch heute sehr beliebt. Die Leute begannen, zu viele Modedrinks zu trinken; statt Radler bestellte man jetzt Spritz, statt einfachem Grappa aus Weintrester wollte man Double Malt Whisky. In unseren Dorfbars spielt heute kein Mensch mehr Karten; weil wir alle vom Strudel des Tourismus mitgerissen wurden, haben wir nicht mal mehr Zeit für eine Runde Briscola. Der „Homo ludens“ hat in jeder Hinsicht dem „Homo oeconomicus“ Platz gemacht.
Wenn ein Ort erst einmal vom touristischen Megastrudel mitgerissen wird, gibt es kein Halten mehr. Dann kann nie mehr genügen, was aus utilitaristischer Sicht ausreichend wäre. Dann hat das profunde Wissen des Bauern dem dehnbaren Gewissen des Geschäftsmanns zu weichen. Wozu diese Entwicklung führt, können wir in Corvara sehen, das mittlerweile von einer großen Straße zerschnitten wird, auf der die Lastwagen mit 70 Stundenkilometern durchbrettern und wo man sich in der Saison wie in der Hauptstraße einer x-beliebigen Stadt ohne eigenen Charakter fühlt. Auch das Geld macht nicht mehr so richtig Spaß.
Arbeiten ist anstrengend, und weil die baurechtlichen Bestimmungen einige Schlupflöcher bieten, wird ordentlich spekuliert: Hier ein Neubau, dort noch einer, und es gibt Menschen bei uns, die diese Häuser und Wohnungen zu absurden Preisen von bis zu 15.000 Euro pro Quadratmeter verkaufen. Dieser Aspekt der Bauspekulation sollte Anlass zu echter Sorge sein, vor allem in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht. Derart hohe Immobilienpreise machen es jungen Menschen und Familien schwer, wenn nicht gar unmöglich, ein Haus zu bauen oder zu kaufen. Sie verlassen also gezwungenermaßen ihren Geburts- oder Heimatort und ziehen dorthin, wo der Tourismus nicht ganz so wild rummelt und die Lebenskosten tragbar sind. Die Dolomitentäler riskieren damit, sich in reine Ferienhausquartiere zu verwandeln. Das Pendlerphänomen kommt erschwerend hinzu.
Im Gegenteil, die Gewinngier macht den Einzelnen regelrecht blind.
Bei uns in Corvara kommen auf 1.378 Bewohner 365 Zweit- und Ferienwohnungen; in der Nachbargemeinde Badia sind es 722 auf 3.400 Bewohner. Die Gemeinde Corvara gehört, gemessen an der Einwohnerzahl, zu den Südtiroler Gemeinden mit dem höchsten Anteil an Gästebetten: Das Verhältnis beträgt 5,5 Betten pro Einwohner. Zahlen, die zu Sorge Anlass geben und den Verhältnissen in vielen anderen Alpenorten ähneln; Cervinia im Aostatal etwa ist ein weiteres Beispiel. Dazu kommen das Missverhältnis zwischen Einwohnerzahl und vorhandener Infrastruktur sowie das Ungleichgewicht zwischen den Monaten mit maximaler Gästeauslastung und denen der sogenannten Nebensaison. Bauspekulation und das Phänomen der Zweitwohnungen werden zu einer immer größeren Bedrohung der sozialen Ausgewogenheit im Dorf. Was sind das für Dörfer, in denen viele Häuser einen Großteil des Jahres leer stehen?
Bei uns hat sich außerdem im wahrsten Sinne des Wortes ein Gefälle zwischen den Ortschaften des oberen Gadertals und denen des unteren eingestellt: Der untere Talbereich muss häufig die negativen Folgeerscheinungen des kräftigen Tourismuswachstums bei uns „oben“ ertragen – angefangen vom Autoverkehr bis hin zu einer Dynamik wirtschaftlicher Abhängigkeiten, weil Handwerker, Gastronomie und Hotelmitarbeiter und die unterschiedlichsten Selbstständigen während der Saison ständig zwischen oben und unten hin- und herpendeln und sich damit ein Großteil des Ortslebens verlagert. Dazu kommt, dass der Verkehr, der durch all die touristisch motivierten Ortswechsel und vor allem durch die Touristen selbst erzeugt wird, in Südtirol mit seinen über 30 Millionen Übernachtungen pro Jahr einen Überschuss an Mobilität erzeugt. Dieser führt zum Bau neuer Straßen, Ortsumfahrungen und anderer Infrastrukturen, die immer nur wenige Monate im Jahr wirklich genutzt werden und sich negativ auf Umwelt und Kostenbilanz niederschlagen.
Orte mit hoher touristischer Konzentration müssten Maßnahmen gegen ihren Ausverkauf entwickeln. Gewisse Leute lehnen das ab, mit der Begründung, dass so etwas verfassungswidriger Protektionismus wäre, der die Freiheit der Bürger einschränkt. Die dominierende Religion in unserer heutigen Gesellschaft ist der Liberalismus, die Überbetonung individueller Wünsche und Vorstellungen, die als höchste Form der Selbstbestimmung gefeiert wird. Nach dem Motto: Keiner kann uns vorschreiben, was gut ist und was schlecht. Dabei sind die Grenzen des freien Marktes klar: Weder kann er garantieren, dass Gewinne gerecht zustande gekommen sind, noch, dass sie gerecht verteilt werden.
Im Gegenteil, die Gewinngier macht den Einzelnen regelrecht blind. Wenn Wachstum tatsächlich unser höchster Wert ist, dann haben wir es bis zur Katastrophe nicht mehr weit. Das neoliberale Dogma des Marktes allein, dem wir uns nur allzu häufig unterwerfen, kann einfach nicht als Lösung für jedes Problem herhalten. Er ist ein kleines, einfallsloses Konzept, das uns in jeder neuen bedrohlichen Situation doch immer nur wieder dieselben alten Rezepte aus der Tasche kramen lässt. Deshalb halte ich es für dringend notwendig, dass wir der Spekulation, die den Ausverkauf unseres Landes vorantreibt, einen Riegel vorschieben. Um den alten Bestand an traditionellen Bauten haben sich unsere Politiker und Gemeinderäte praktisch nie gekümmert; ihr ganzes Streben galt der maximalen Nutzung von erlaubtem Bauvolumen, weshalb sie ein Baugesetz am Leben halten, das hinten und vorne nicht funktioniert.
Nach Durnwalder-Logik gilt: Wer stehen bleibt, hat schon verloren. Immer weiter wachsen, noch größer werden, noch mehr Geld verdienen – nur darum geht es bei uns. Was der Begriff Ökonomie etymologisch eigentlich bedeutet, weiß bei uns keiner mehr. Der altgriechische Terminus oikonomia setzt sich zusammen aus den Wortteilen „Haus“ und „Gesetz“, meint wörtlich übersetzt also die Hausverwaltung. Unsere Politik aber spornt uns zum Investieren an, zum Schuldenmachen, statt uns zum bewussten Führen und Verwalten unseres Hauses zu motivieren, wobei Haus für Gemeinwohl steht. Erst als das Coronavirus auftauchte, begannen sich die Dinge zu ändern: Die Banken gewähren jetzt zwar längere Fristen für die Kreditrückzahlung, stufen zugleich aber das Rating der Unternehmen herab, erhöhen die Zinsen und gewähren neue Kredite nicht mehr so leicht. Das System, auf dem bisher alles aufbaute, zeigt die ersten echten Risse. Doch über Jahrzehnte hinweg hatten wir eine äußerst großzügige Verwaltung, unter der praktisch jeder tun konnte, was er wollte. Unter ihrer Ägide hat sich unser Bergdorf in eine monokulturelle Tourismushochburg verwandelt.
„Man kann höchstens eine Generation lang reich und ignorant sein“, hat mir mal der Politiker und Journalist Ricardo Franco Levi gesagt.
Wie der Skeptiker Pyrrhon von Elis sagte: Es ist schwer, den Menschen abzulegen. Ich möchte ergänzen: Es ist schwer, den Homo oeconomicus abzulegen, der in uns herangewachsen ist. Spekulation ist Sünde, wenn ihr einziger Sinn in der Gewinnmaximierung besteht und nicht im Geringsten auf das betroffene soziale Umfeld geachtet wird. Spekulation ist auch kein richtiges Projekt, denn das Wort Projekt kommt vom lateinischen proicere, und das bedeutet „nach vorne werfen“. Spekulation ist demnach auch keine echte Vision für die Zukunft, kein Sich-Öffnen in Richtung Wandel und Transformation. Der von touristischer Attraktivität ausgelösten Spekulation diametral entgegen steht das, was ich als Gastfreundschaft bezeichne. Mit Gastfreundschaft können wir wirklich neue Ziele erreichen. Reine Spekulation hingegen nimmt unserem Arbeiten im Tourismus etwas von seiner Schönheit. Sie entfernt uns vom echten Leben, verletzt die Regeln, die uns Mutter Natur gesetzt hat. Wenn die Wirtschaft sich schneller entwickelt als die Kultur, dann haben wir ein Problem. Dann haben wir sogar ein soziales Dilemma. „Man kann höchstens eine Generation lang reich und ignorant sein“, hat mir mal der Politiker und Journalist Ricardo Franco Levi gesagt.
Wir können die Berge nicht einfach auf eine Wochenend-Destination reduzieren. Leute, die sich in einem Tourismusort eine Ferienwohnung kaufen, haben oft einen verzerrten Blick auf das Leben in diesem Ort. Sie neigen zur Idealisierung des sozialen Kontextes und nehmen ihn auf eine Weise wahr, die wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat. Wer immer nur ein paar Tage bleibt, kann nicht richtig Teil der örtlichen Gemeinschaft werden, denn dazu bräuchte es ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Geben und Nehmen; der Gast müsste auch Verantwortung in der Gemeinschaft übernehmen, er müsste dauerhaften Einsatz zeigen, nicht nur ab und zu am Wochenende. Die Erfahrung hat auch gezeigt, dass Menschen, die sich eine Ferienwohnung kaufen, diese Ferien dann tatsächlich mehr oder weniger in dieser Wohnung verbringen. Sie essen gerne zu Hause, lassen also nur wenig Geld im Ort. Dafür klopft jetzt immer öfter das große Kapital bei uns an, gerne auch aus dem Ausland. In Einzelfällen ist es in Alta Badia schon vorgekommen, dass entscheidende Anteile an historisch bedeutenden Immobilien an ausländische Investmentgesellschaften verkauft wurden. Dieses Phänomen wird die existierenden Betriebe in Zukunft noch stärker betreffen, vor allem weil sie wegen Corona ohnehin schon schwer in der Krise stecken.
Wer von draußen zu uns gekommen ist, hat natürlich auch Umweltbelastungen verursacht, doch weniger als wir Einheimischen.
Die Sache mit den vielen Ferienwohnungen hat jedoch auch eine gute Seite, und die betrifft die Wertschätzung von Architektur und Landschaft. Wer etwas kauft, wird sich kaum eine bauliche Scheußlichkeit hinstellen wollen oder einen international renommierten Stararchitekten engagieren, der keine Ahnung hat von Land und Leuten. Die architektonische Aufwertung, die wir in den letzten Jahren erlebt haben, verdanken wir tatsächlich auch den Fremden. Sie haben uns Einheimische positiv beeinflusst und eine Wertschätzung für traditionelles Bauen gezeigt, die uns selbst irgendwie abhandengekommen war. Wer von draußen zu uns gekommen ist, hat natürlich auch Umweltbelastungen verursacht, doch weniger als wir Einheimischen.
Er hat spekuliert und Fläche verbaut, aber weniger als wir Bergbewohner. Als wir, die wir unser Land an reiche Industrielle verscherbelt, auf einen Schlag einen Haufen Geld verdient und dabei die Zerstörung unseres eigenen natürlichen und sozialen Umfelds vorangetrieben haben. Aber wie der alte Giarone immer gesagt hat, ein ladinischer Bauer, Schleppliftbetreiber, Hotelier und Vater von 14 Kindern: „Das Geld verdienst du nur einmal, aber das Stück Land, das du verkauft hast, das hast du für immer verloren.“ Natürlich steckt in Verallgemeinerungen immer viel Falsches. Genauso wie nicht alle Auswärtigen unsere Traditionen und unser Land mit Füßen treten, sind nicht alle Einheimischen misstrauisch und ignorant. Aber wer sind diese Auswärtigen eigentlich genau? Wer sind die Einheimischen? Und was sind ihre Rechte?
Michil Costa
Ein Plädoyer gegen die touristische Monokultur
Edition Raetia
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