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Veröffentlicht
am 20.08.2021
LeuteEssay von Maxi Obexer

Infiziert

Veröffentlicht
am 20.08.2021
Was hat die Pandemie aus uns gemacht? Das hat die Schriftstellerin Maxi Obexer im Rahmen der Summer School Südtirol gefragt - und hat dazu einen aufrüttelnden Text verfasst.
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Heute, nach anderthalben Jahren und drei Wellen, fragen wir danach, was die Pandemie aus uns gemacht hat.
Denn dass sie uns durch die Herausforderungen, die sie uns auferlegt hat,
verändert hat, ist sicher. Was hat sie aus uns gemacht? Oder auch: Wie können wir selbst bestimmen, was sie aus uns macht.
Die Antwort kann ganz banal ausfallen:
wer vorher ein guter Mensch war oder versucht hat, es zu sein,
wurde ein besserer, wer vorher nicht versucht hat, einer zu sein, wurde noch böser.

Etwas detaillierter:
Manche gaben alles
andere ließen an Niedertracht nichts aus.
Die einen hauten rein
andere wuchsen über sich hinaus.
Manche wurden leise, andere stritten lauthals alles ab.
Die einen hassten, andere versuchten zu verstehen.
Verständnisvoll und fassungslos.
Wie oft waren und sind wir gleichzeitig alles.
Infiziert – soweit ist sicher, sind wir alle,
auf allen Ebenen, auf den sozialen, den politischen, den ganz persönlichen.
ganz unabhängig davon, ob die Realität des Virus anerkannt,
oder ob sie geleugnet wurde.

II

Es ist viel passiert.
Ohne das Leid mit dem Virus selbst zu schmälern, die Krankheit, das Wegsterben von so vielen, die menschlichen und existenziellen Abgründe, die sich vielen auftaten,
gab es ein zweites Leiden – oder ein sekundäres: das Leiden aneinander – das Leiden an den ungleichen Verhältnissen.

Mit dem Virus verschärften sich die Unterschiede, die lange vor dem Virus existierten.
Die ungleichen Gewichte in unseren Systemen lasteten noch schwerer,
sie trieben neue Wunden in die nie geheilten, nie ausgeglichenen, nie behobenen.
Die alten neuen Ungerechtigkeiten schreien in den Himmel – weltweit, zahllos.
In manchen Ländern sind bis heute keine Impfstoffe angekommen, in anderen verweigern die Machthaber, dass überhaupt geimpft wird.
Wer hätte gedacht, auf welch schicksalhafte Weise die Menschen in der Bekämpfung einer tödlichen Seuche von ihren Regierungschefs abhängen. Davon, ob diese demokratisch oder autokratisch tickten, ob sie auf die Betroffenen in den Krankenhäusern reagierten, oder auf die eigene Elite. Tausende, wenn nicht Millionen Menschen starben am blindwütigen Macht- und Eigeninteresse ihrer Präsidenten.

Es ist seither ein Offener Tag für die Demokratie weltweit – ein bewegtes Laboratorium mit unabwägbaren Ausgängen.

III

Vieles hätte nicht sein müssen.
Es hätte Vieles nicht passieren dürfen.
Und Vieles, das passiert ist, muss aufhören,
darf niemals wieder passieren.

Dazu gehören die Gewalt – und die Gewaltverbrechen an Frauen und Mädchen.
Sie haben sich verdoppelt, dabei lag die Zahl schon 2017 bei 87 000 Opfern weltweit,
87 000 ermordete Mädchen und Frauen, die Zahl hat sich seit der Pandemie verdoppelt.

Ausgelöscht allein, weil sie weiblichen Geschlechts sind. In Italien stirbt seit der Pandemie jeden Tag eine Frau, Südtirol zählt mit und treibt die Zahl noch höher. (Eures-Bericht)
„Warum ist es so leicht zu töten?“ fragt ein Priester die Trauernden bei einer Beerdigung von Francesca Fantoni, die getötet, zerstückelt und im Park entsorgt wurde.

Die Morde offenbaren einen brutalstmöglichen Vernichtungswillen und sind an Grausamkeit kaum zu überbieten – und dennoch ist der Kampf gegen die Gewalt an Frauen einer, der zuerst gegen die Normalität zu führen ist.
Einer, der es gegen die zahllosen alltäglichen Momente akzeptierter Ungleichheit aufzunehmen hat. Gegen einen kulturellen Habitus, der die männliche Überlegenheit noch immer wie selbstgegeben voraussetzt. In der die Über- und Unterordnung keinen Gewaltakt an sich darstellt, sondern das normale Ordnungsgefüge. In der die Vernichtung nach verbaler und psychischer Terrorisierung eine letzte Konsequenz darstellt.

Die Kämpfe gegen die Frauen sind Kulturkämpfe, die stattfinden. Und das nicht nur im häuslichen und familiären Bereich, wo am häufigsten getötet wird. Auch im öffentlichen Bereich, wo es darum geht, welche zivilisatorischen Prozesse geführt werden, welche Debatten nötig sind, wer die Deutungshoheit beansprucht, werden Frauen zuerst herabgewürdigt und bekämpft –besonders natürlich dann, wenn sie eine eigene Stimme – und was sich nicht verhindern lässt, eine Gegenstimme formulieren.

“Frauen, die Zukunftsthemen aufbringen, sind die größte Provokation für viele Frauenhasser
Die Reaktionen wollen weder Frauen an der Macht noch Zukunft, sie wollen ihre Welt zurück.” (Jagoda Marinić, SZ 10.06.2021)

Für manche ist die gleiche Mitsprache von Frauen im öffentlichen Feld noch immer unvorstellbar genug, um mit allen Sorten von Hass zu reagieren, offen, subtil, perfide. Und es ist wichtig, zu benennen, was es ist: Es ist Frauenhass, es ist Misogynie. Und die hat ihre Ursprünge. Und solange es Akteure gibt, die ihre Privilegien wie Waffen in die Hand nehmen, wird es statt der gemeinsamen Suche nach Lösungen in schweren Zeiten, zusätzliche Grabenkämpfe geben. Zusätzliche Abgründe.

Vieles das passiert ist, hat uns aus der Illusion gerissen, dass wir längst weiter sind.
Was wir sicher auch sind – und gerne am liebsten im postrassistischen, postfeministischen, postklassistischen Zeitalter. Wir sind längst da und woanders, und wir sind zugleich in einer Realität, die barbarisch anmutet, an der wir nicht vorbeischauen dürfen: die wir uns antun müssen, um sie zu verändern.

IV

Wir werden nach dieser Zeit, in der wir viel Gift geschluckt haben,
und manches Wasser, das wir schluckten, in Tränen ausgeweint haben,
in einer Zeit, wo das Fluide im Sozialen, in den Beziehungen, in den Freundschaften auszutrocknen schien,
und wo die Kunst nicht heilen durfte, weil sie weggesperrt blieb, uns fragen können, was hat geholfen, was war heilsam, wie können wir heilen?

Wie können wir das Verknöcherte, Versteinerte wieder auflösen
Das Zerrüttete, Zerbrochene wiedergutmachen?

Ich habe während der langen Monate der Pandemie eine neue Ehrfurcht entdeckt,
vor denen, die mit Geduld, mit Sanftmut, mit Stille,
die Einschränkungen hingenommen haben,
und taten, was zu tun war.
Die sogleich verstanden haben,
ohne Widerstand, ohne Kampf und ohne Energieverlust an falscher Stelle,
worum es jetzt ging: ums Aushalten.
Nie hätte ich bislang von mir gedacht, dass ich Respekt vor denen habe,
die einfach den Regeln folgten,
auch den politischen Weisungen, ihnen grundsätzlich vertrauten,
statt mit Verschwörungstheorien sich von allem zu verabschieden.

Die in die Einsamkeit gegangen sind,
mit der Schwere des Hinnehmens und des Ertragens,
auch, als immer wieder jede neue Hoffnung zerfiel.
Die immer wieder erschöpft waren und doch verstanden haben,
dass ein Virus sich wenig darum kümmert,
ob wir erschöpft, ausgelaugt, leer, oder kurz vor dem Kollaps sind.
Die verstanden haben, dass es darum geht, durchzuhalten –
und wennmöglich ohne großen Schaden.

Ich habe Respekt vor Menschen wie meiner Mutter, die nie gehadert hat,
in all der langen Zeit des Verlusts, des Alleinseins,
die tat, was zu tun war, sich im kleinen eingeschränkten Leben
zurechtzufinden mit dem, was da war.

Vor den Menschen in Berlin, die anderthalb Jahre ausharrten,
in einer kleinen Wohnung, lesend, konzentriert, genügsam.
Ohne zu verzweifeln. Ohne ihre Freundlichkeit zu verlieren,
ihren Humor. Die wussten, was jetzt am Nötigsten war:
Milde, Freundlichkeit, Humor.
Ich habe Respekt vor ihnen, vor ihrer Genügsamkeit.

Vor dem alten Mann mit Strohhut in seinem elektrischen Rollstuhl,
und seinen kleinen zwei Hunden auf dem Schoß,
dessen ganzer Weg Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für darin besteht, von der Wohnung zur Apotheke, in den Park und wieder zurückzufahren.
Und der von seiner heiteren Schnoddrigkeit keinen Millimeter abrückte.
Vor dem Fahrradfahrer,
der täglich durch die Straßen von Kreuzberg radelt
den Ghettoblaster auf dem Gepäckträger und dem Song im Ewig_Loop:
„We are the champions“.

Sie rührten mich, die Gruppe junger Gestalten,
die in Minusgraden im Februar – auf dem Bunkerhügel tanzten
mit Maske, Mänteln, frierend, den kleinen schroffen schütteren Grashügel nutzend
für eine Stunde des Beach-Volleyball-Spiels.

Oder die im Sommer am Schwimmbadeingang
geduldig in der Schlange stehen, für ein zwei Stunden,
für ein paar Bahnen im Wasser,
und die erfrischt und fröhlich nach Hause radeln.

Vor denen, die nicht aufhörten immer besser zu begreifen,
was der körperliche sinnliche und emotionale Abstand,
der Verzicht auf das Gesellige
mit unseren angespannten Körpern macht,
welche Härte er uns abverlangt, welche Tapferkeit,
und wie viel Bereitschaft zum Versöhnen er immer wieder nötig macht.

Im bestmöglichen Versuch, die Wirkung der Pandemie,
Phase für Phase, Welle für Welle zu begreifen, zu verstehen,
und im Versuch des Verstehens zur Milde zu gelangen,
gegen die Verführung, mit Aggression zu reagieren,
gegen die Versuchung, mit allem zu brechen.

Und ein Leben zu führen,
das sich in der Beobachtung eingerichtet hat,
in der Selbstbeherrschung, unter ständiger Selbstkontrolle
im Modus der Selbstorganisation, im Modus der Genügsamkeit,
und selbst in diesem fortwährend selbstbefragten Dasein
darauf achtzugeben, als Controllfreaks, die wir geworden sind,
noch sozial kompatibel zu bleiben – oder wieder zu werden.

Und ich habe Respekt vor denen, die gegen Diffamierungen anschreiben,
die sich an die Seite der Diffamierten stellen,
die sich hinstellen und widersprechen,
die das öffentliche Feld verteidigen
gegen den Hass und gegen die Diffamierung und gegen die Angst,
die sich exponieren, statt sich zurückzuziehen.

Und ich habe Respekt vor denen, die vom Virus erwischt wurden,
denen buchstäblich das Herz verklebt ist und die Lunge,
denen der Puls noch immer im Hals schlägt,
wenn sie die Treppe zur eigenen Wohnung hochgehen,
die seit anderthalb Jahren leise und geduldig kämpfen um ihr Leben,
obwohl ein großer Teil von diesem Leben
nie wieder das Leben sein wird, das es einmal war.

Es sind einige wenige herausgegriffene Momente,
von vielen anderen, in denen wir heilen konnten,
und uns Heilung angeboten wurde,
von all jenen, die einfach nur versuchten,
nicht gänzlich erfasst zu werden von den Folgen eines Virus,
der uns allmählich und von Anfang an infiziert hat.

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