Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus
„Was dich nicht umbringt, macht dich stärker“, sagte einst Nietzsche. Seit der traumatischen Geburt meines Sohnes vor drei Jahren ein Satz, der mich immer wieder beschäftigt. Das Zitat suggeriert nämlich, dass jedes erlebte Leid oder jede Krise zwangsläufig zu Wachstum und Stärke führt. Das ignoriert die Realität, dass Traumata, chronische Belastungen oder Verluste häufig eher zu langfristigen Schäden – psychisch, physisch oder emotional – führen können, anstatt den Betroffenen zu stärken. Ohne Nietzsche auf den Schlips treten zu wollen: Ein – meines Erachtens – brillanter Mann, über die Toxizität dieser Lebensweisheit hat er sich aber anscheinend nicht so viele Gedanken gemacht. Was uns nicht umbringt, kann uns stärker machen, ja. Es kann uns aber auch schlicht und einfach eines: traumatisieren. Warum das wissenschaftlich nachweisbar ist und wie unser Umfeld unsere Erfahrungen mitprägt.
Wie ausgefranste Schnürsenkel
Die renommierte Molekularbiologin Elizabeth Blackburn hat 2009 den Nobelpreis gewonnen für ihre bahnbrechende Arbeit an Telomeren. Telo-was? Telomere sind winzige DNA-Strukturen am Ende unserer Chromosomen. Ihre Aufgabe ist es, unsere Erbinformation zu schützen, damit sich unsere Zellen teilen können. Bei jeder Zellteilung werden diese Telomere kürzer. „Wenn die Enden der Schnürsenkel an unseren Schuhen zu weit ausfransen, sind sie unbrauchbar. Dann kann man sie wegwerfen. Mit den Zellen verhält es sich genauso. Wenn die Telomere zu kurz werden, hören die Zellen auf, sich zu teilen“, erklärt Blackburn. (1) Das klingt ebenso humorvoll, wie dramatisch.
Die Länge der Telomere bestimmt, wann unser letztes Stündchen schlägt.
Lange Zeit glaubte man, dass sich Zellen unendlich oft teilen können – das ist nicht so. Die Zellteilung ist begrenzt und damit auch unser Leben. Die Länge der Telomere bestimmt, wann unser letztes Stündchen schlägt. Wir kommen mit etwa 10.000 Basenpaaren auf die Welt und sterben, wenn wir bei etwa 4.000 angekommen sind.
Vom Leben gezeichnet
Blackburn hat diese winzigen biologischen Strukturen genauer unter die Lupe genommen und herausgefunden, dass Faktoren wie Armut, Rassismus oder chronischer Stress sich direkt negativ auf genetische und molekulare Funktionsweisen auswirken können. Damit widerlegt sie Ansichten wie: „Ach, das ist doch eh alles genetisch vorbestimmt, da haben wir keinerlei Einfluss darauf.“ Haben wir (bis zu einem bestimmten Punkt) eben doch.(3)
Nicht, dass die Gene unwichtig wären, aber sie sind keineswegs die autonomen Richter über unser Schicksal, sondern siereagieren auf ihre Umwelt, auf Impulse innerhalb und außerhalb unseres Körpers. Nehmen wir als Metapher den Samen einer Sonnenblume: Es liegt in seiner Natur, zu einer Sonnenblume heranzuwachsen – aber nur dann, wenn bestimmte Bedingungen, wie Sonnenlicht, Wasser und Bodenbeschaffenheit gegeben sind. Selbst wenn es dem Samen gelingt, Wurzeln zu schlagen und zu keimen: Wie stark, groß und gesund er wird, bestimmen die Impulse, die er von außen bekommt (oder eben nicht).
So verhält es sich auch mit uns Menschen: Wie die Sonnenblume haben wir Bedürfnisse, die von unserer Umwelt erfüllt werden müssen, damit wir wachsen und gedeihen können. „Vieles von dem, was uns gesund oder ungesund macht, liegt nicht an uns, sondern an den Umständen. Das lässt mich viel mehr über soziale Gerechtigkeit und die größeren Probleme nachdenken, die über den Einzelnen hinausgehen“, sagt Blackburn. Und mich bringt es zum Nachdenken über unser gesellschaftliches Konstrukt von Selbstliebe: Bin ich, egal wie sehr ich mit mir im Reinen bin, einem krankmachenden Umfeld einfach ausgeliefert? Oder: Ist es etwas, das wir in unserer modernen Welt verlernt haben, aktiv wahrzunehmen, wie sehr unsere Umwelt uns beeinflusst?
„All my relations“ – so begrüßen sich zahlreiche indigene Völker auch heute noch. Viele alte Kulturen haben schon vor langer Zeit verstanden, dass wir nur in Beziehung zu allem existieren, von allem beeinflusst werden und selbst alles beeinflussen. Ein multidimensionales Band sozusagen, das die ganze Welt miteinander verbindet. Die Gemeinschaft, in der wir leben, mit unseren Vorfahren und künftigen Nachkommen, mit dem Land und den Pflanzen, Tieren und Lebewesen um uns herum. Im Einklang mit unserer Umwelt.
„This is, because that is. This is not, because that is not. This is born, because that is born. This dies because that dies“, sagte Buddha bereits im 6. Jahrhundert vor Christus. Heute weit mehr als nur irgendein esoterisches Zitat. Es beschreibt sehr genau das physikalische und organische Universum, einschließlich Gesundheit und Pathologie. (2)
Einer der bedeutendsten Traumatologen unserer Zeit, Bessel van der Kolk, sagte, dass unsere Kultur uns immer mehr dazu verleitet, uns auf unsere persönliche Einzigartigkeit zu konzentrieren, aber dass wir, tiefer betrachtet, kaum als individuelle Organismen existieren. Inzwischen gibt es medizinische Ansätze, die den kranken Menschen ganzheitlich betrachten, indem sie nicht nur den Körper, sondern auch die Psyche, die Umwelt, unsere Emotionen und unsere Seele berücksichtigt.(4) Die sogenannte Mind-Body-Medizin (MBM) versucht so, eine Brücke zwischen Schulmedizin und Naturheilkunde zu schlagen. Steve Cole, Professor für hämatologische Onkologie, brachte es auf den Punkt: „Wenn bei uns eine Krankheit ausbricht, muss zuerst eine ganze Reihe an Dingen falsch gelaufen sein.“ Krankheit wird demnach als Ausdruck eines unausgeglichenen Milieus gesehen, als ein Prozess und nicht einfach als „etwas, das wir haben“. Chronischer Stress bringt das Nervensystem an seine Grenzen, der Hormonhaushalt gerät aus dem Gleichgewicht, die Immunreaktion wird gestört, Entzündungswerte begünstigt und damit unser körperliches und seelisches Wohlbefinden beeinträchtigt. Alles geschieht in Beziehung zueinander. (5)
Resilienz imponiert als wunderbare Lösung aller aktuellen, die Gesellschaft erschütternden Probleme
Jetzt fragen wir uns bestimmt alle: Wie, um Himmels Willen, soll ich Stress vermeiden?
Vielleicht fangen wir einfach mal damit an, Leiden nicht zu glorifizieren und die Narrative von Stärke und Resilienz neu zu erfinden. Resilienz imponiert als wunderbare Lösung aller aktuellen, die Gesellschaft erschütternden Probleme, ignoriert dabei jedoch folgende Tatsache: Resilienz ist ein komplexes „bio-psycho-soziales“ Phänomen, das von vielen Faktoren positiv oder negativ beeinflusst werden kann.
Wir sollten persönliche Verantwortung nicht über gesellschaftliche Unterstützung stellen. Manche Stressoren lassen sich nicht vermeiden, nein, aber wir können ein Umfeld schaffen, in dem wir Unterstützung erfahren und den Mental Load teilen können. Uns bewusst darüber werden, was wir brauchen und was toxisch für uns ist. Dicht bei uns behalten, was uns guttut und lernen loszulassen, was uns schadet. Uns mit Menschen unterhalten, die uns Momente der Leichtigkeit schenken. Und vor allem: Uns darüber im Klaren sein, dass alle anderen genauso versuchen, ihren Weg durch dieses Mysterium called life zu manövrieren.
Ich für meinen Teil werde – wenn ich das nächste Mal in eine Stressspirale gerate – kurz an meine ausgefransten Telomere denken, tief durchatmen und einfach für einen Moment auf „Pause“ drücken.
Quellen:
(1)„Die Entschlüsselung des Alterns – Der Telomer-Effekt“von Dr. Elizabeth Blackburn und Dr. Elissa Epel
(2)„The Myth of Normal“von Gabor Maté
(3)Elissa S. Epel et al., “Accelerated Telomere Shortening in Response to Life stress,” proceedings of the National Academy of Sciences 101 https://www.pnas.org/content/101/49/17312
(4)George L. Engel, “The Need for a New Medical Model: A Challenge for Biomedicine, ” Science 196, no. 4286
(5)Astin JA, Shapiro SL, Eisenberg DM, et al. Mind-body medicine: state of the science, implications for practice. Journal of the American Board of Family Practice
Support BARFUSS!
Werde Unterstützer:in und fördere unabhängigen Journalismus:
https://www.barfuss.it/support