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Es war die Nacht vom 26. auf den 27. Mai 2024. Unbekannte Täter:innen warfen einen Stein an eine Wohneinrichtung der Lebenshilfe Mönchengladbach. Darauf standen die Worte „Euthanasie ist die Lösung“ – eine eindeutige Gutheißung und Verherrlichung der NS-Euthanasieprogramme (Abilitywatch, 2024 und Lebenshilfe, kein Datum). Bei diesem NS-Massenmord wurden ca. 300.000 Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen, Lernschwierigkeiten etc. ermordet (Deutschlandfunk, 2024), darunter auch tausende Kinder (Bundeszentrale für politische Bildung, 2019). Und das, weil das NS-Regime – aber auch andere davor – diese Menschen als „lebensunwertes Leben“ und Last für die Gesellschaft bewerteten (Bundeszentrale für politische Bildung, 2019). Diese Tat war also nicht nur ein physischer Angriff auf ein Wohnheim der Lebenshilfe Mönchengladbach, sondern auch ein erschreckendes Plädoyer für eine mörderische Bewertungspolitik, die ihren Schrecken schon mehr als deutlich gezeigt hat.
Ableismus definieren?
Wenn Politik oder Gesellschaft über Menschen mit Behinderung sprechen, dann wird oft über Inklusion gesprochen. Aber hört man in die Community der Menschen mit Behinderung rein – was viel zu selten passiert – dann fällt heutzutage das Wort Ableismus besonders auf. Doch was ist Ableismus?
Für Ableismus gibt es mehrere Definitionen, die aber alle den gleichen Kern zur Behindertenfeindlichkeit haben: Ableismus ist die Diskriminierung, bei der Menschen mit Behinderungen, mit chronischen Erkrankungen, psychischen Erkrankungen etc., als „weniger wertvoll“ deklariert werden (vergleiche z. B. Strohriegel, 2024 oder Amadeu Antonio Stiftung, kein Datum). Sicherlich denken jetzt viele, dass „weniger wertvoll“ nicht mehr im Sprach- und Verhaltensjargon vorkommen. Naja, wenn man sich die aktuelle Situation von Menschen mit Behinderungen anschaut und auch einmal offenlegt, wie Menschen mit Behinderung gesehen werden, lässt sich dieser Gedanken widerlegen.
Die öffentliche Hand gibt zwar finanzielle Leistungen an Menschen mit Behinderungen und an die „geschützten“ Strukturen, doch dies schafft Abhängigkeiten und fördert ein System der Arbeitsexklusion.
Das Modell „Taschengeld“
Ein konkreter Bereich, wo Menschen mit Behinderung abgewertet werden, ist die Arbeitswelt. Nur sehr schwer finden Menschen mit Behinderung eine Beschäftigung auf dem regulären Arbeitsmarkt. Das trifft nicht nur auf Deutschland oder Österreich zu, sondern besonders auch auf Italien (Carucci, 2024). Und auch hier in Südtirol findet das Modell „Taschengeld“ – so muss man dieses Entgelt bezeichnen – seine Anwendung. Dabei bekommen Menschen mit Behinderungen, gerade wenn sie in einer geschützten Einrichtung arbeiten und wohnen, ein Taschengeld von wenigen hundert Euro.
Gerade hier wird der Ableismus besonders deutlich: Durch diese „Taschengeldbezahlung“ wird nicht nur die Arbeitsleistung von Menschen mit Behinderungen deutlich abgewertet, sondern es werden auch die Lebenssituationen und Lebenserhaltungskosten dieser Menschen ins Absurdum geführt. Die öffentliche Hand gibt zwar finanzielle Leistungen an Menschen mit Behinderungen und an die „geschützten“ Strukturen, doch dies schafft Abhängigkeiten und fördert ein System der Arbeitsexklusion. Zudem wird mit dem Modell „Taschengeld“ das Sparen, was mit einem normalen Lohn eh schon schwer ist, fast unmöglich.
Von Sprache, Gedankengut und Taten
Aber auch die Sprache und das Gedankengut sind ein Ort der Abwertung: Menschen mit Behinderung und ihr Leben werden auch heute noch als Last dargestellt. Ein bekanntes Beispiel ist das MDR-Sommerinterview vom 9. August 2023 mit Björn Höcke (AfD). Mit abwertender Handgestikulation sagte er damals, man müsse das Bildungssystem von Ideologieprojekten, wie unter anderem der Inklusion, befreien (MDR, YouTube-Kanal MDR, 2023). Ohne Umwege lässt sich diese Aussage so interpretieren, dass die Schüler:innen mit Behinderungen in den Regelschulen eine Last für andere sind. Im selben Interview sprach der Thüringer AfD-Chef außerdem über „das Wegnehmen der Belastungsfaktoren vom Bildungssystem.“
Noch problematischer ist eine Aussage nach der Ermordung von vier Menschen mit Behinderung in Potsdam (28. April 2021). Im rbb (Rundfunk Berlin Brandenburg) brachte der Polizeipsychologe Dr. Gerd Reimann das Motiv für die vier Morde mit den Worten „erlösen“ und „Leiden“ in Verbindung (Latscha, 2021). Bei einigen wird jetzt sicher der Gedanke aufkommen, dass „erlösen“ doch nur ein theoretischer Erklärungsversuch für die Mordmotive sei und dass keine:r dies als Motiv für die Tötung bzw. Ermordung einer Person mit Behinderung verwenden würde. Doch das stimmt so nicht. Das beweist nicht nur die Geschichte mit dem Ermächtigungsschreiben Hitlers und den darin genannten „Gnadentod“, sondern auch die Gegenwart.
Im Mai 2020 töteten im Kanton Argau in der Schweiz Eltern ihr dreijähriges Kind mit Behinderung. Sie begründeten diese Tat damit, dass sie ihr Kind vom Leid erlösen wollten (Argauer Zeitung, 2023). Auch die Verteidigung der Eltern sprach bei den Gerichtsverhandlungen von einem „Totschlag aus Mitleid“ (Jehle, 2024). Diese Tat zeigt, dass solche abwertenden Annahmen zu einer Antriebsbegründung für Handlungen werden können. Sicherlich: Diese Aussagen und Taten sind extreme Beispiele für Abwertung. Doch: Sie sind real und sie sind geschehen.
Als Außenstehende:r anzunehmen, das Leben einer Person sei eine Last, ist klarer Ableismus.
Nicht „weniger wert“
Aber auch alltägliche Situationen zeigen, dass Menschen mit Behinderung und ihr Leben als Last gesehen werden. Ein gängiger Spruch ist zum Beispiel: „Toll, wie sie/er das Leben trotz Behinderung meistert.“ So etwas suggeriert deutlich, dass das Leben dieser Person mit Behinderung eine Last für sie/ihn sei. Der Grund dafür ist, dass dieses „Meistern ihres/seines Lebens“ deutlich hervorgehoben wird. Es stimmt natürlich, dass das Leben mit einer Behinderung nicht immer das einfachste ist – man kann öfter erschöpft sein (keine Spoons mehr haben) oder schneller an die eigenen Grenzen kommen als selbst gedacht. Aber als Außenstehende:r anzunehmen, das Leben einer Person sei eine Last, ist klarer Ableismus. Dabei sind es oft die von der Gesellschaft erbauten und geduldeten Barrieren, die das Leben erschweren. Anzudeuten, das Leben sei eine Last, ist somit ein blanker und abwertender Hohn.
Leider gibt es noch etliche andere Beispiele, die Menschen mit Behinderung als „weniger wert“ darstellen. Doch ist Ableismus ein alleiniges Abwertungsschema, oder steckt viel mehr dahinter? An dieser Stelle zu behaupten, dass die Definition von Ableismus nun fertig erklärt sei, wäre schlichtweg eine Faust in die Gesichter der Betroffenen.
Ableismus entsteht durch mehrheitsgesellschaftliche Stereotype.
Bilder in den Köpfen der Menschen
Was ist Ableismus nun, wenn es nicht „nur“ ein Abwertungsschema ist? Um das zu erörtern, muss man auch die Entstehungsfrage dieser Diskriminierungsform beleuchten. Und das ist nicht mal so schwer: Ableismus entsteht durch mehrheitsgesellschaftliche Stereotype. Diese sind Bilder ohne jegliche Variabilität, die die Mehrheitsgesellschaft über Menschen mit Behinderung erstellt. Das Ergebnis ist dann, dass Menschen mit Behinderung zum Beispiel in Schubladen gesteckt werden, oder dass ihnen nur bestimmte Fähigkeiten zugeordnet werden und andere nicht – deshalb auch Ableismus. Gerade durch diese Zuordnungsprozesse bekommt Ableismus eine besondere Definitionsbreite. Und gerade hier können mehrheitsgesellschaftliche Wertigkeitsvorstellungen entstehen und weitergetragen werden. Deshalb beinhalten die meisten Definitionen – wie auch in den oben genannten Quellen – diese Verallgemeinerungen.
Es stimmt natürlich, dass diese von der Mehrheitsgesellschaft geschaffenen Bilder Unterschiede zwischen den einzelnen Behinderungen erlauben. Doch genau das bringt nur ein weiteres Problem mit sich: jenes der Hierarchisierung zwischen Menschen mit Behinderung. Dieses Problem wird deutlich, wenn man zum Beispiel darüber nachdenkt, welche Kompetenzen bzw. Fähigkeiten Menschen mit Hörbehinderung und welche Menschen mit Gehbehinderung generell zugeordnet werden, ohne diese Menschen wirklich zu kennen. Leider ist es halt oft dann so, dass man meint, dass eine Person mit Hörbehinderung – „weil diese ja nicht viel hört und deshalb nicht so viel weiß“ – weniger Kompetenzen hat als eine Person mit Gehbehinderung – „man muss halt eine Rampe bauen, aber als Controller:in kann sie/er trotzdem arbeiten!“ Es wird oft außen vor gelassen, dass eine Behinderung nicht bei allen gleich ist oder die Kompetenz vom individuellen Menschen und dessen Interesse abhängt.
Zudem muss vermerkt werden: Menschen mit bestimmten Behinderungen können Kompetenzen bzw. Fähigkeiten besser aufbauen als mit anderen. Der Grund dafür ist, dass für bestimmte Behinderungen das Bewusstsein größer ist als bei anderen. Barrieren werden somit schneller und effektiver abgebaut. Ein Beispiel: Das mehrheitsgesellschaftliche Bewusstsein für Menschen mit Sehbehinderung ist größer als jenes für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Wäre dieses Bewusstsein gleich, dann würde die Leichte bzw. Einfache Sprache eine größere Rolle spielen, als sie es jetzt tut. Auch hier gibt es also wieder eine Hierarchisierung zwischen Menschen mit Behinderung.
Man kann – und soll – die Frage, was Ableismus ist, also nicht voll beantworten.
Keine absolute Antwort
Versucht man jetzt diese Definitionsteile zusammenzubringen, dann ist Ableismus nicht nur die alleinige Abwertung von Menschen mit Behinderung, sondern auch ihre Ungleichmachung und Hierarchisierung. Doch ist damit die Frage, was Ableismus ist, beantwortet? Nein. Um ehrlich zu sein, ist es wohl unmöglich, eine vollschließende Antwort auf diese Frage zu finden. Der wohl wichtigste Grund dafür ist die Intersektionalität. Dies bedeutet, dass Ableismus sich mit anderen Diskriminierungen, wie zum Beispiel Misogynie, Queerfeindlichkeit, Rassismus, Gadje-Rassismus (gegen Sinti*zze und Rom*ja) oder mit anti-asiatischem Rassismus überkreuzt oder multipliziert.
Ein anderer wichtiger Grund: Ableismus kann situationsabhängig entstehen. Dies bedeutet, es können immer wieder neue Elemente in der Definition entstehen. Gäbe es jetzt eine geschlossene Begriffsdefinition, dann müssten neu aufkommende Ableismus-Formen außen vor gelassen werden. Das wäre falsch und würde eine vollständige gesellschaftliche Aufarbeitung verhindern. Man kann – und soll – die Frage, was Ableismus ist, also nicht voll beantworten. Im Gegenteil: Ein kontinuierlicher Definitionsprozess muss aktiv ermöglicht werden, damit der Begriff des Ableismus präziser, aber möglicherweise auch breiter wird.
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