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Es war einmal eine Heuschrecke, die alles falsch machte. Sie sprang fidel durch den Sommer und kümmerte sich nicht um den herannahenden Winter. Und dann war da noch die Ameise, die alles richtig machte: Sie dachte den ganzen Sommer über an den Winter und schleppte unermüdlich Vorräte in ihre Speisekammer. Die Ameise hatte also einen miesen Sommer, die Heuschrecke einen miesen Winter, und wirklich richtig und komplett falsch hat es keine von beiden gemacht. Aber worauf der Fabeldichter Äsop eigentlich hinauswollte: Vorsorgen ist wichtig. Denn als der Winter kam, hatte die Heuschrecke ein größeres Problem als die Ameise.
Hast du im Sommer singen und pfeifen können, so kannst du jetzt im Winter tanzen und Hunger leiden, denn das Faulenzen bringt kein Brot ins Haus.
Die Ameise übertreibt.Wir machen einen Heuschreckensprung von Äsop zu Alzheimer, genauer gesagt zum Demenzforscher Robert Katzman ins Jahr 1988. Wir schauen mit ihm in die Hirne verstorbener Menschen und stellen überrascht fest, dass einige Menschen Hirne voller Plaques haben, obwohl sie zeit ihres Lebens keine Symptome einer Alzheimer-Demenz hatten. Wie kann das sein? Ihren Hirnen nach zu urteilen, hätten diese Menschen Gedächtnisprobleme haben müssen! Hatten sie aber nicht. Etwas später fällt Katzman und anderen Wissenschaftlern dann außerdem auf, dass Menschen mit einem höheren Bildungsniveau weniger häufig Alzheimer bekommen. Der Wissenschaftler Yakoov Stern glaubt zunächst, dass es sich bei diesen Befunden wohl um einen Diagnosefehler handeln müsse, weil Menschen mit höherem Bildungsniveau bei Intelligenztests – und ein Gedächtnistest wird bei Verdacht auf Demenz gemacht – oft besser abschneiden. Er und andere Wissenschaftler beginnen, gesunde Menschen mit unterschiedlichem Bildungsniveau über einen langen Zeitraum hinweg zu beobachten, und stellen dann überrascht fest: Es ist kein Diagnosefehler. Bei Menschen mit einem höheren Bildungsgrad wird statistisch gesehen tatsächlich weniger häufig Alzheimer diagnostiziert.
Das klingt seltsam, wird aber nachvollziehbarer, wenn man auf die Formulierung des letzten Satzes achtet: „… weniger häufig Alzheimer diagnostiziert“. Keine Diagnose zu haben, bedeutet, dass erstens kein Arzt eine bestimmte Erkrankung festgestellt hat, weil man zweitens gar nicht in seine Praxis spaziert ist, weil man drittens vermutlich keine Symptome – zumindest keine gravierenden – hatte. Aber bedeutet eine Nicht-Diagnose auch zwingend, dass eine Erkrankung nicht vorhanden ist? Nein. Weil Alzheimer-Ablagerungen auf zellulärer Ebene passieren und kein Physik- oder Französischstudium der Welt Plaques verschwinden lassen kann, zählten die Wissenschaftler eins und eins zusammen und kamen zum Schluss: Alzheimer befällt quer durch alle Bildungsschichten die Menschen gleichermaßen. Allein, einige sind besser auf den Winter vorbereitet und können Schäden länger kompensieren als andere, deswegen zeigen sie keine klinischen Symptome wie Vergesslichkeit und Orientierungslosigkeit und gehen auch gar nicht zum Arzt. Warum aber? Warum sind einige von uns Ameisen und andere Heuschrecken? Und wie haben die Ameisen die Reserve für den Winter angesammelt, der in Form von Stress, Krankheit und Alter unweigerlich für jeden von uns kommen wird?
Schwester Marys Hirn und die kognitive Vorratskammer
Zur Beantwortung dieser Frage gehen wir jetzt kurz ins Kloster, und zwar zu den „Armen Schulschwestern von Unserer Lieben Frau“ in den USA und besuchen Schwester Mary. Ungefähr zu der Zeit, als Robert Katzman seine Autopsie toter Hirne machte, begann David Snowdon ab 1986 einmal im Jahr einen Gedächtnistest mit 678 lebenden Nonnen durchzuführen. Die meisten Nonnen waren in anspruchsvollen geistigen Berufen tätig, vorwiegend als Lehrerinnen. Wie Schwester Mary zum Beispiel, die noch mit 84 Jahren im Klassenzimmer stand und auch nach der Pensionierung bis zu ihrem Tod mit 101 Jahren geistig aktiv blieb. Alle Schwestern hatten zugestimmt, dass ihre Gehirne nach dem Tod untersucht werden dürften, und als die Wissenschaftler die Präparate unter dem Mikroskop hatten, fanden sie das, worauf auch Katzman schon gestoßen war: Einige der Verstorbenen hatten Alzheimer gehabt, ohne Alzheimer gehabt zu haben.
Ein stärker vernetztes Gehirn hat höhere Reservekapazitäten, weil es unterschiedliche Netzwerke nutzen kann, um gleiche Leistungen zu erbringen.
Zunächst liegt der Gedanke nahe, dass Menschen, die Schäden in den Zellen länger kompensieren können, schlicht mehr Ersatzmaterial zur Verfügung haben. Undeinigen Studien nach zu urteilen, könnte das auch ein bisschen stimmen: Menschen mit einem etwas größeren Schädel scheinen etwas später Alzheimer zu bekommen. Bevor Sie jetzt aber nach einem Maßband rennen oder sich über Ihren Dickschädel freuen, schauen wir nochmal in Marys* Akten: Marys Hirn lieferte noch 8 Monate vor ihrem Tod bemerkenswerte 27 von 30 Punkten bei einem Gedächtnistest (der bekannten Mini Mental State Examination) ab, brachte in der Post-mortem-Vermessung dann allerdings nur 870 Gramm auf die Waage (eine erwachsene Frau hat in der Regel 1.200–1.300 Gramm Gehirn rumzutragen). Ein löchriges Leichtgewicht, dessen Neokortex und Hippocampus voller Plaques waren. Was Mary aber geholfen hat, um diese Schäden zu kompensieren: die neuronalen Verbindungen, die sie durch lebenslange geistige Anstrengung aufgebaut hat.
Man kennt es ja schon von anderen Organen: Geht in ein paar Leberzellen das Licht aus, läuft die Leber trotzdem weiter. Auch die Lunge macht nicht gleich komplett dicht, weil es irgendwo in einer Ecke einen kleinen Betriebsunfall gibt, und von Ihren zwei Nieren können Sie ein Exemplar gänzlich Ihrem Nachbarn schenken und trotzdem munter weiter durchs Leben springen. Im Gehirn ist das nicht anders. Fallen irgendwo ein paar Nervenzellen aus, weil sie beispielsweise durch Plaques lahmgelegt werden, springen andere Nervenzellen ein. Diesen Puffer, den wir durch effiziente Nutzung unserer Neurone aufbauen, nennen Wissenschaftler „kognitive Reserve“. Ein stärker vernetztes Gehirn hat höhere Reservekapazitäten, weil es unterschiedliche Netzwerke nutzen kann, um gleiche Leistungen zu erbringen. Und fällt dann mal ein Netzwerk aufgrund einer beginnenden Demenz, eines Schlaganfalls oder eines anderen Problems aus, kann das Gehirn Schäden länger kompensieren und funktionell bleiben. Genau das ist nun der Grund dafür, warum Menschen, die ein höheres Bildungsniveau haben, die Ameisen unter uns sind: Sie haben schlicht (meist) mehr von ihrem Grips benutzt und ihre Nervenzellen sind nicht nur während der Bildungsjahre fleißig vernetzt worden, sondern auch nachher noch in Beruf und Privatleben gefordert und gefördert worden. Wie jene von Schwester Mary.
Weniger Förderung am Anfang, höherer Druck währenddessen – das macht den Bildungsweg für Nichtakademikerkinder ungleich schwerer.
Das Bildungsniveau erfasst man, indem man die Jahre an den Fingern abzählt, die man hinter Schul-, Uni- oder Hochschulbänken verbracht hat. Was für eine gute Nachricht für alle Studierten unter uns! Und wie blöd für die Arbeiterkinder unter uns, dass die Pipeline zum Bildungserfolg leider leckt! „Leaky Pipeline“ nennt man das Phänomen, dass Kinder und Jugendliche aus der Arbeiterklasse auf dem Bildungsweg allmählich verloren gehen. Von 100 Akademikerkindern beginnen 74 ein Studium, von 100 Nichtakademikerkindern nur 21. Von 100 Akademikerkindern machen 45 einen Masterabschluss, von Nichtakademikerkindern sind es 8. Und auf 1 Nichtakademikerkind, das dann noch ein Doktorat schafft, kommen 10 Dr. Akademikerkinder (Dies besagt der Hochschul-Bildungs-Report 2020 vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft).
Das liegt nicht daran, dass Arbeiterkinder blöder sind, sondern ärmer. Denn wer ärmer ist, hat erstens eine sehr viel höhere Schwelle zu überwinden, um überhaupt in die Uni zu kommen, und kann sich dann zweitens auch nicht jahrelang entspannt in die Bücher vertiefen, während Mami die Miete zahlt, sondern muss nebenher noch kellnern. Weniger Förderung am Anfang, höherer Druck währenddessen – das macht den Bildungsweg für Nichtakademikerkinder ungleich schwerer. Und damit wären wir dann wieder beim Thema Lebenserwartungs-Gap zwischen Armen und Reichen und Gesundheitsgerechtigkeit.
Lernen löst in jedem Alter in Ihrem Hirn die gleichen smarten neurobiologischen Prozesse aus, deswegen sollte es lebenslang ein Hobby von uns bleiben. Zweitens ist das simple Zählen der Bildungsjahre etwas banal, denn das Leben verpasst uns zahlreiche Lektionen auch ganz ohne Unigebühren und Facharbeiten, schließlich hatte Mary auch „nur“ ein Highschool-Diplom (was in etwa dem Abitur entspricht). Weil das den Wissenschaftlern recht schnell auffiel, entwickelten sie Fragebögen, die neben Bildung und Beruf auch Freizeitbeschäftigungen und ehrenamtliche Aktivitäten erfassen. Denn nicht nur Schulbildung, sondern jede Art von geistiger Aktivität stimuliert unser Gehirn und baut unsere kognitive Reserve aus. (Wissen Sie, was noch eine fantastische kognitive Reserve ist? Zwei- oder Mehrsprachigkeit. Kinder lernen Sprachen problemlos und aus neurobiologischer und präventivmedizinischer Sicht spricht alles dafür, zweisprachigen Unterricht zu fördern und möglichst vielen Kindern Zugang zur Mehrsprachigkeit zu ermöglichen. Leider ist in bestimmten Minderheitenregionen wie Südtirol zweisprachiger Unterricht nach wie vor ein Politikum, obwohl er eine wertvolle Möglichkeit und ein Mehrwert wäre.)
Je mehr Sie Ihr Denkorgan benutzen, desto weniger verschleißt es.
Smart durch den Tag: Alltag als Gedächtnistraining
Der Punkt ist: Ihr Gehirn funktioniert genau andersrum, als es Ihr Auto in der Garage tut. Je mehr Sie Ihr Denkorgan benutzen, desto weniger verschleißt es. Und mit „benutzen“ sind nicht nur Arithmetik und Anthropologie, sondern auch Aquarellmalen und Amateurtheater gemeint. Benutzen wir das Hirn, lösen wir dort all die positiven Prozesse aus, die wir im ersten Teil des Buches kennengelernt haben: Synaptogenese, Dendritenwachstum, Neurogenese, Freisetzung von Transmittern, Erhöhung von Neurotrophinen, epigenetische Veränderungen, verbesserte zerebrale Durchblutung und Reduktion von Entzündungen. Lernen verändert die Zellen, und das kann man sogar auf dem MRT-Foto sehen: Lernen Menschen, verändert sich die weiße Substanz im Gehirn und es kommt unter anderem zu einer stärkeren Myelinisierung (Wir erinnern uns, Myelin ist das Isolierband unserer Nervenzellen und wichtig für die Weiterleitung von Nervenimpulsen). Lernen Menschen beispielsweise Jonglieren und vergleicht man das MRT ihres Gehirns, nachdem sie es gelernt haben, mit dem MRT ihres Gehirns, bevor sie jonglieren konnten, dann sieht man: Da ist plötzlich etwas mehr Hirnsubstanz im Bereich für visuell-motorische Koordination. Weil man mit Lernen seine Neurone besser verschaltet, hat übrigens auch das Hirn Ihres Taxifahrers durch die Navigationserfahrung im Vergleich zu Ihrem Hirn einen etwas ausgeprägteren Bereich im Hippocampus.
Klingt ganz danach, als wäre unser Hirn ein Muskel, den man mit Denksport trainieren kann! Nun, ganz so wie ein Bizeps funktioniert das zelluläre Boosten im Gehirn aber dann doch nicht, auch wenn das einige Anbieter von Gedächtnistrainings versprechen. Zwar können regelmäßige Gedächtnisübungen spezifische kognitive Fähigkeiten verbessern, aber die trainierten Aufgaben sind nicht unbedingt auf andere kognitive Bereiche oder das tägliche Leben übertragbar und oft sind die kognitiven Verbesserungen nur von kurzer Dauer und erfordern eine fortgesetzte Anwendung. Konkret bedeutet das: Bevor Sie sich das Geld von dubiosen Gedächtnistrainern aus der Tasche ziehen lassen, gehen Sie lieber in Ihren Lieblingsbuchladen, ins Theater, zu Freunden und fahren Sie doch bitte endlich mal nach Rom in die Vatikanischen Museen. Da wollten Sie schon immer hin! Solange wir aktiv bleiben und unser Hirn mit neuen Eindrücken, Geschichten und Fertigkeiten füttern, machen wir alles richtig. Und das gilt natürlich gerade auch für die Zeit, die wir ohne Lohnarbeit hier auf Erden verbringen dürfen. Schwester Mary pflegte nach ihrer Pensionierung mit 84 Jahren zu sagen: „Ich gehe nur nachts in den Ruhestand.“ Wenn wir das beherzigen, dann bleiben wir mit etwas Glück smart bis zum Sarg.
Dr. Barbara Plagg erklärt in ihrem Buch „Smart bis zum Sarg“ (Edition Raetia), wie unser Gedächtnis funktioniert, warum Denken und Erinnern neuronale Teamarbeit sind und dass Prävention von Gedächtnisproblemen und Demenz möglich ist. Ihre Tipps für den Alltag sind leicht umzusetzen – wenn da nicht der innere Schweinehund wäre. Aber selbst der lässt sich überlisten, wie die Autorin zeigt.
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