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Das vielleicht einzig Faszinierende an Grenzen – echten Grenzen, wie wir sie in West- und Mitteleuropa gar nicht mehr kennen – ist das Gefühl, das Ende der Welt erreicht zu haben. Immer wieder hat es mich auf Reisen durch Südosteuropa befallen, vor allem in Kleinstaaten wie Montenegro, wo die nächste Grenze nie weiter als hundert Kilometer entfernt ist.
Besteht zum Nachbarland auch noch eine gewisse Feindschaft, eine Erinnerung an Kriege, die nicht lange her sind, ist das Ende-der-Welt-Gefühl umso stärker. Hier gibt es zwar Hauptstraßen, aber kaum Autos; Eisenbahntraßen, aber nur für den Güterverkehr; und es gibt schaurige Legenden darüber, wer hinter der Grenze haust und was mit dir passieren wird, falls du es wagst, sie zu überqueren. Wohlmeinende Warnungen? Oder gnadenlose Vorurteile?
Die Frage stellte ich mir zuletzt im Bahnhofscafé von Bar an der montenegrinischen Adriaküste, rund 40 Kilometer vor der Grenze zu Nordalbanien. Angefangen hat es mit einer viel banaleren Frage: „Wie komme ich da rüber? Gibt es einen Bus?“ So wende ich mich an den erstbesten Gast, einen bis auf wenige Stoppeln kahlgeschorenen Hünen, und reibe mir zugleich noch den Schlaf aus den Augen. Die Pritschen im Nachtzug aus Belgrad waren unbequemer als gedacht.
Es gibt schaurige Legenden darüber, wer hinter der Grenze haust und was mit dir passieren wird, falls du es wagst, sie zu überqueren.
Der Hüne, seine Schultern breit wie ein Felsblock aus der umliegenden Karstlandschaft, blickt einmal nach links und nach rechts. Die drahtigen Typen, die an seiner Seite Schwarztee trinken und offenbar seine Gefolgschaft bilden, blicken vielsagend zurück. Ein donnerndes Gelächter bricht aus.
„Kaum bist du über die Grenze, werden sie dich entführen, dir die Organe aus dem Leib reißen und auf dem Schwarzmarkt verkaufen.“
„Ach, was. Wer macht denn sowas?“
„Na wer, die Mafia. Hör auf mich, Bruder, vergiss Albanien!“, poltert der Hüne und lässt seine Goldzähne aufblitzen.
Die Idee, eine Reportage über das Zugfahren auf dem Balkan zu schreiben, das merke ich spätestens jetzt, war von vorneherein eine Schnapsidee. Ich hatte geträumt, fünf Tage lang die wilden Schluchten des Balkans zu bestaunen, all das zu genießen, was an mir vorbeiziehen würde, während ich mich bequem im Fenstersitz fläzte: verwunschene Dolinenfelder, fruchtbare Poljen, die verwegenen dinarischen Gipfel.
Und so entstehen sie: die Enden der Welt. Entlegene, fast unerreichbare Winkel und Weiler, für die Einheimischen die letzten Vorposten einer noch vertrauten Zivilisation.
Die Landschaft gab es tatsächlich, die Fenstersitze und überhaupt die Züge: nicht immer. Stattdessen musste ich auf speckige Minibussitze ausweichen, in bester Marschrutka-Manier, weil die meisten Zugverbindungen am Balkan in den letzten Jahren stillgelegt wurden. Grund dafür war nicht unbedingt die mangelnde Nachfrage, auch nicht die Konkurrenz der Fernbusse. Sondern schlicht das Unvermögen der verschiedenen Bahnbetreiber, sich grenzüberschreitend auf Kompromisse zu einigen, etwa bei Kostenfragen. Im schlimmsten Fall, wie hier, zwischen Montenegro und Albanien, gab es nicht einmal die Minibusse.
Und so entstehen sie: die Enden der Welt. Entlegene, fast unerreichbare Winkel und Weiler, für die Einheimischen die letzten Vorposten einer noch vertrauten Zivilisation. Inoffizielle Reisewarnungen, wie die im Bahnhofscafé, sind integraler Bestandteil solcher Gegenden. Es war nicht das erste Mal, dass ich sie hörte, zumal auf dem Balkan. Doch wo genau kamen die Legenden her?
„Ich weiß, wovon ich spreche, ich fahre jede Woche über die Grenze“, entgegnet der Hüne auf mein Nachhaken, diesmal etwas barscher, als wäre die Autorität seiner Ratschläge infrage gestellt worden.
„Wozu?“
„Ich schmuggle. Elektrozeug.“
„Hast du keine Angst?“
Erwischt zu werden, meine ich, aber er bezieht es auf die Albaner.
„Angst, vor wem?“ Der Hüne lässt erneut die Goldzähne funkeln. „Seit dem Krieg im Kosovo genieße ich einen gewissen Ruf da drüben. Hinter der Grenze kennen alle den Henker Vuk.“
So also sein Name. Und das waren unmissverständliche Hinweise dafür, dass er sich im Krieg nicht gerade durch Sanftmut verdient gemacht hatte. Was ich immer noch nicht weiß, ist, wie ich über die Grenze kommen soll. Bus gibt es offensichtlich keinen. Ich entscheide mich, mich mit ausgestrecktem Daumen an den Straßenrand zu stellen.
Nach zwei zähflüssigen Stunden hält endlich ein Wagen an, ein Sammeltaxi. Auf dem Rücksitz ein Greis, der eine derart verdreckte Maske trägt, dass man vermutet, er habe sie seit Anfang der Pandemie nicht mehr gewechselt. Im Übrigen trägt er sie unterm Kinn, sodass sie eher die Funktion eines Lätzchens erfüllt.
Auf dem Rücksitz ein Greis, der eine derart verdreckte Maske trägt, dass man vermutet, er habe sie seit Anfang der Pandemie nicht mehr gewechselt.
Der Fahrer und ich gehen einmal alle Sprachen durch, die wir beherrschen, nur um festzustellen, dass wir keine gemeinsame haben. Also viel Zeit für mich, aus dem Fenster das vorbeiziehende Niemandsland zu betrachten. Ein paar letzte brachliegende Felder, dann Schluchten, enge Kurven, überhängende Felsen. Irgendwann eine Grenzstation im Nirgendwo. Wer oder was dahinter ist, konnte bislang niemand genau sagen. Nur die Gewissheit, dass da auch Menschen sein müssen, lässt einen über bestimmte Horrorgeschichten hinwegsehen.
Schon in den ersten Siedlungen nach der Grenze zeigt sich ein radikal neues Straßenbild, ganz anders als in den slawischen Nachbarländern: lebendiger, lauter, orientalischer. Funkelnde Mercedes überholen Eselkarren, am Straßenrand wird auf Teppichen Gemüse verkauft. In der Stadt Shkodra fühlt es sich an wie auf dem Bazar. Bevor ich aussteige, gibt mir der Fahrer noch ein paar Mandarinen mit, zum Abschied. „Ciao“ und „viel Glück“, sagt er in zwei Sprachen, die er sich aus meinem Repertoire gemerkt hatte. „Faleminderit“, antworte ich, das einzige Wort, das ich auf Albanisch kenne. Ich merke, dass es noch etwas Faszinierendes an Grenzen gibt: das Gefühl, dass eine neue Welt beginnt.
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