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Veröffentlicht
am 12.11.2018
LeuteStraßenzeitung zebra.

Mutmacher der Jungen

Veröffentlicht
am 12.11.2018
„Ich war ein Fehler im System“, sagt Ali Mahlodji. Als Flüchtlingskind kam er nach Österreich, heute macht der erfolgreiche Unternehmer Jugendlichen Mut.
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Ali Mahlodji ist Buchautor, Unternehmer, europäischer Jugendbotschafter und Gründer des Web-Portals watchado.com. Als Kind floh er aus dem Iran nach Wien. Er brach die Schule ab, hatte über 40 Jobs und ein Burnout. Beim IMS im Oktober in Brixen sprach der 37-Jährige darüber, vor welchen Herausforderungen Jugendliche heute stehen und wonach sie in der Arbeitswelt suchen.

Auf Ihrer Webseite bezeichnen Sie Ihre Geschichte als „Fehler im System“. Warum?
Ich bin Flüchtling und Schulabbrecher, habe einen komischen Namen, unzählige Jobs gemacht und trotzdem die Kurve gekratzt. Ein Journalist sagte einmal zu mir, dass Menschen sich Ausbildung und Karriere als etwas Geradliniges vorstellen. Wenn es über so viele Umwege dennoch klappt, sei das wie ein Fehler im System. Allerdings habe ich für watchado.com* mit Tausenden Menschen über ihre Arbeit gesprochen. Die meisten haben einen Zick-Zack-Weg gemacht. Systemfehler sind nicht die Ausnahme, sondern die Regel.

Inwiefern beeinflusst Bildung diesen Weg?
Eigentlich sollten wir das Wort „Bildung“ gar nicht mehr in den Mund nehmen und stattdessen von der Lust am Lernen sprechen. In der Schule lernt man nicht fürs Leben, sondern für den nächsten Test. Das Zentrale am Thema Bildung sollte stattdessen das lebenslange Lernen und die offene Haltung dazu sein, die man Kindern vermittelt.

Wie kann man Kinder dazu anregen?
Unser Unterrichtsstil, dieser Frontalvortrag, kommt aus dem Militär, ist aber nicht im Bildungsgesetz verankert. Es gibt öffentliche Schulen in verschiedenen Ländern, die fast nur Projektarbeit machen. Sie bringen den Kindern bei, sich selbst etwas beizubringen. Was Bildung wirklich braucht, ist die Haltung, dem Kind zuzutrauen, den eigenen Talenten folgen und Dinge selbst erarbeiten zu können anstatt ihm immer zu sagen, was es machen soll. Jedes Kind lernt schließlich gehen und sprechen, obwohl es das Schwierigste auf der Welt ist.

Warum?
Weil es einen Nutzen darin sieht. Aber wir haben das Kind abgestumpft. Wir geben ihm Aufgaben, die es lösen soll, egal, ob es sich dafür interessiert oder es das Gelernte später braucht. Wenn es keine Fehler macht, sagen wir: tolles Kind! In der Wirtschaft, draußen in der Welt, braucht es aber Menschen, die Dinge hinterfragen und die sich auch trauen, Fehler zu machen.

Als Jugendbotschafter vermitteln Sie zwischen der Jugend und Vertreter*innen von Politik und Wirtschaft. Wie gehen Sie vor?
Meine Hauptaufgabe ist es, beide Seiten zu bespielen: jene der Jugend und jene der Erwachsenen. Es geht mir dabei nicht darum, den Jugendlichen zu sagen, dass sie alles können, sondern ich möchte ihnen etwas klarmachen: Ratschläge, die sie von ihren Eltern hören, stammen aus deren persönlichem Wissen. Wenn Erwachsene über Sicherheit im Job sprechen und behaupten, ein Job sei der richtige, dann stellt sich die Frage, ob sie alle Jobs auf der Welt kennen. Können sie wirklich sagen, welcher in zehn Jahren ein sicherer Job ist?

Ich sage den 15-Jährigen, dass sie in zehn Jahren die Erwachsenen dieser Welt sein werden. Sie müssen dann all die Probleme lösen, die wir ihnen übergeben.

Sie statten Jugendliche mit Argumenten aus?
Ich helfe ihnen, die wichtigsten Daten, Zahlen und Fakten zu lernen, sodass sie beispielsweise nach meinen Vorträgen mit den Eltern diskutieren können. Wenn Erwachsene dann sagen, dass ein Job kein richtiger Job sei, dann kann der Jugendliche das hinterfragen.

Wie dringen Sie zur Jugend durch?
Es ist wichtig, sie mit ihrer Sprache und auf Augenhöhe abzuholen. Sie wollen als Menschen wahrgenommen werden. Ich sage den 15-Jährigen, dass sie in zehn Jahren die Erwachsenen dieser Welt sein werden. Sie müssen dann all die Probleme lösen, die wir ihnen übergeben – vom Klimawandel über die Schere zwischen Arm und Reich bis zur Gleichstellung von Frauen. Letztens hat daraufhin ein Schüler zu seiner Lehrerin gesagt: „Haben Sie gehört? Ich bin die Zukunft!“

Die Generation X, also die zur Jahrtausendwende geborenen, stürmen derzeit den Arbeitsmarkt. Sie gelten als verantwortungsscheu, selbstbezogen und schwer berechenbar. Wie sehen Sie das?
Anhand der Bedürfnispyramide sehen wir, dass jeder Mensch zunächst das Bedürfnis nach Sicherheit hat. Wenn das abgearbeitet ist, dann geht es um das Individuum. Die Spitze der Pyramide ist die Selbstverwirklichung. Die Jungen wollen sich heute selbst verwirklichen. Wir haben eine Welt geschaffen, in der für alles gesorgt ist. Es gibt in Europa keine leeren Supermarktregale. Wer heute ein Deo kaufen will, steht vor der Entscheidung: Kirsche oder Pfirsich? Die Generation der Großeltern hingegen erlebte die Zeit nach dem Krieg, als es an allem fehlte. Sie haben ihren Kindern gesagt, dass es ihnen einmal besser gehen soll. Dabei ging es aber um Grundbedürfnisse.

Was geben heute Eltern ihren Kindern mit?
Wer einem Kind von heute sagt, dass es ihm einmal besser gehen soll, erzeugt Druck. Wie soll es ihm noch besser gehen? Wir haben fließendes Trinkwasser, funktionierende Krankenhäuser und WLAN. Kindern sollte man eher klar machen, dass die Generationen vor uns all das aufgebaut haben, wofür uns die Welt beneidet. Jetzt sollten die neuen Generationen diese Schätze nehmen und jene Probleme lösen, die ihre Vorfahren nicht bewältigen konnten.

Woran hakt es?
Manager behaupten oft, Jugendliche seien ungeduldig und unfähig zu tieferen Beziehungen. Kinder haben heute kaum die Chance, sich zu langweilen, Ärger auszuhalten. Als ich ein Kind war und im Fernsehen nichts Cooles lief, ärgerte ich mich, aber ich konnte es nicht ändern. Ich habe noch gelernt, das auszuhalten. Heute gibt man den Kindern ein Tablet in die Hand und stellt sie damit ruhig. Ihre Frustrationstoleranz ist gleich null.

Ist die Digitalisierung das Problem?
Nein. Das Problem ist, dass wir nie gelernt haben, damit umzugehen. In der Schule wird nur mit vorsortierten Informationen gearbeitet. Das Stoffgebiet ist in sich abgeschlossen, es gibt keine Überraschungen und die Lehrperson achtet darauf, dass alle mitkommen. Die echte Welt da draußen – Social Media, Snapchat, Instagram, Whatsapp, SMS, Email – das haben wir nie gelernt. Jeder Browser kann zwanzig Tabs aufmachen. Wir öffnen ein Tab und zwanzig Minuten später denken wir uns: Wo bin ich jetzt gelandet? Wir haben nie gelernt, mit unsortierten Informationen umzugehen. Das war vor zehn Jahren noch egal, aber jetzt zahlen wir den Preis dafür.

Wo liegen die Chancen?
Wir lernen gerade, mit der Digitalisierung umzugehen. In einigen Jahren wird man uns vielleicht vorwerfen: „Was? Ihr hattet schon damals das Wissen der Welt in der Hosentasche und habt nur Selfies und Katzenfotos gemacht?“ Bei watchado.com zum Beispiel verwenden wir das Internet, um Wissen zentral an einem Ort zu bündeln und Menschen zur Verfügung zu stellen. Es gibt auf der Webseite absichtlich keine Videos, die nur 20 Sekunden dauern. Sie dauern mindestens fünf Minuten. Da sind echte, ganze Sätze möglich, weil wir wollen, dass die Leute das Tempo wieder reduzieren.

Lebenslange Jobs gibt es nicht mehr, heute wechseln Menschen durchschnittlich zehn Mal in ihrem Leben die Arbeitsstelle.

Wobei wir wieder beim Thema Frustrationstoleranz sind. Wie wirkt sich diese im Berufsalltag aus?
Junge Menschen kommen in ein Unternehmen, mit all ihren Zeugnissen, Praktika und Auslanderfahrungen. Die wollen dann schnell Karriere machen und dann heißt es plötzlich: Geduld! Karriere passiert nicht innerhalb von einem Jahr; das braucht Zeit und das muss man aushalten. Unternehmen wollen Mitarbeiter* innen, die tiefe Beziehungen eingehen, sich weiterentwickeln, Netzwerke aufbauen und Konflikte austragen.

Wie finden Unternehmen und Jugendliche zusammen?
Die Antwort lautet: durch Sinn. Was einst Eltern und Großeltern wichtig war, ist heute passé. Lebenslange Jobs gibt es nicht mehr, heute wechseln Menschen durchschnittlich zehn Mal in ihrem Leben die Arbeitsstelle. Wie es mit der Pension einmal aussehen wird, kann niemand mit Sicherheit sagen. Die Pensionierung ist nicht mehr das Lebensziel. Das müssen Unternehmen erkennen und versuchen, den Menschen den Sinn ihrer Arbeit zu vermitteln. Nicht umsonst gehen Jugendliche heute vermehrt zu NGOs. Es geht nicht nur darum, dass eine Jobbeschreibung erfüllt wird, sondern darum, aus welchem Grund jemand seine Lebenszeit in einem bestimmten Unternehmen verbringen soll und nicht woanders.

watchado.com hat über 6.800 Menschen gefragt, was sie an ihrem Job lieben und was sie jungen Menschen mitgeben möchten. Was sind die häufigsten Antworten?
Die meisten sagen: „Mach dir nicht so viel Stress, du hast Zeit!“ Das will ich auch mit meinen Vorträgen erreichen. Viele Jugendliche meinen, sie müssten mit 14 bereits wissen, wo sie in zehn Jahren stehen. Ich sage dann: Entspannt euch! 65 Prozent der Jobs, die wir in zehn Jahren machen werden, gibt es heute noch nicht. Wenn ein junger Mensch sagt, ich weiß noch nicht, was ich machen will, dann sollten wir ihn oder sie ermutigen, auf die Reise zu gehen und zu suchen. Die ganzen YouTuber, die heute so berühmt sind – sie waren einmal Verrückte in den Augen ihrer Eltern. Jede*r Jobberater*in hat denen gesagt, dass sie spinnen.

Aber da haben sie sich getäuscht.
Und wie! Heute laden Medienkonzerne YouTuber und Influencer zu sich ein, um von ihnen zu lernen: „Wie macht ihr das? Warum folgen euch elf Millionen Menschen?“, fragen sie die. Naja, da haben junge Leute vor zehn Jahren begonnen, an etwas zu arbeiten, für das sie Talent haben. Sie brachten sich das Handwerk bei und nutzten das Internet – das ist alles!

Was würden Sie heute dem 14-jährigen Ali raten?
Versuche alles zu erreichen, was du willst, aber nicht mit Ellenbogen. So, wie du bist, bist du gut genug. Nimm das Leben nicht zu ernst, denn in hundert Jahren gibt es uns nicht mehr. Das einzige, was von uns übrig bleibt, sind Erinnerungen. Versuche diese Erinnerungen zu schaffen. Menschen werden sich nicht an dein cooles Auto, Geld oder ein Haus erinnern, sondern an das Gefühl, das du ihnen gegeben hast.

von Lisa Frei und Verena Schwarz

Der Artikel ist erstmals in der 42. Ausgabe (November 2018) der Straßenzeitung zebra. erschienen.


*watchado.com ist ein Web-Portal, das Ali Mahlodji gemeinsam mit vier Freunden 2011 in Wien gegründet hat. Es basiert auf seiner Kindheitsidee des Handbuchs der Lebensgeschichten. Über 6800 Menschen aus allen Teilen der Erde erzählen in kurzen Videos von ihrem Arbeitsalltag und ihrem Werdegang und ermöglichen dadurch jungen Menschen Orientierung bei der Berufswahl. In Südtirol gibt es seit September eine ähnliche Webseite: „youkando.it – Berufsbilder aus Südtirol“ wird vom Forum Prävention betrieben.

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