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Petra Schwienbacher
Veröffentlicht
am 11.11.2022
LebenObdachlos in Bozen

Mehr als ein warmes Bett

Veröffentlicht
am 11.11.2022
Das Winterquartier dormizil bot Obdachlosen bisher eine Unterkunft für die Nacht. Jetzt soll die Struktur zu dauerhaften Kleinwohnungen ausgebaut werden. Wie soll das gehen?
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Das dormizil bisher – mehrere Zimmer mit zwei oder drei Betten.

Da gibt es den Einheimischen, der sein Haus verliert und zu trinken beginnt, und den Migranten, der aus Afghanistan oder Pakistan geflüchtet ist. Es gibt die junge Frau, die als Jugendliche missbraucht wurde und von daheim weggelaufen ist, oder den Mann, der durch Depressionen die Arbeit verloren und keine Wohnung mehr hat. Obdachlosigkeit hat viele Gesichter, aber eines haben alle gemeinsam: Sie fallen durchs Raster der Gesellschaft.

Aktuell leben in Bozen zwischen 100 und 130 Obdachlose. Genaue Zahlen gibt es kaum, denn es ist schwierig zu schätzen, wie viele Menschen zurzeit in Südtirol auf der Straße leben. Einige dieser Menschen fühlen sich in den öffentlichen Strukturen des Landes, den klassischen Notschlafstellen, nicht aufgehoben. Aus diesem Grund hat 2020 eine Gruppe von engagierten Bozner Privatpersonen, darunter Magdalena Amonn, den Verein housing first bozen EO gegründet und in der Rittner Straße 25 das Nachtquartier dormizil eröffnet. Das dreistöckige Haus wurde dem Verein von der Haselsteiner Familien-Privatstiftung für 30 Jahre kostenlos als Leihgabe für den Dienst an obdachlosen Menschen zur Verfügung gestellt.

Derzeit erhalten im dormizil 25 Menschen ein warmes Bett im kalten Winter. Nach Abschluss der zweiten Wintersaison im dormizil, wo mehr als 100 Freiwillige Nacht- und Frühstücksdienste leisten, soll das Haus in dauerhafte Kleinwohnungen für obdachlose Menschen umgebaut werden.

Magdalena Amonn, eine von neun Privatpersonen aus dem Großraum Bozen, die im Oktober 2020 den Verein housing first bozen EO gegründet haben.

Was war der ausschlaggebende Grund, 2020 den Verein Housing First Bozen EO zu gründen?
Magdalena Amonn: Wir arbeiten bereits seit Längerem im Freiwilligenbereich – bei Essensausgaben, Kleiderausgaben usw. Von Jahr zu Jahr beobachteten wir immer dieselbe Situation, dass Menschen auf der Straße leben, die keine Bleibe finden. Die Notschlafstelle dormizil ist eigentlich nur eine Übergangslösung. Denn wir möchten das Haus umbauen und mehrere Kleinwohnungen schaffen, wo Langzeitobdachlose längerfristig drinnen wohnen können.
Erst in dem Moment, in dem diese Menschen ein Dach über den Kopf haben, eine fixe Bleibe, kommen sie auch zu ihren Rechten: zu einem Wohnsitz und vielleicht zu einer kleinen Rente oder einer Invalidenrente. Erst dann können sie sich langsam wieder ins normale Leben eingliedern. Das heißt nicht, dass sie nachher wieder arbeiten können, denn einige sind bereits zu lange auf der Straße, zu alt oder sie haben diverse Krankheiten. Das Leben auf der Straße prägt. Diese Menschen sind viel älter, als es auf ihrem Ausweis steht.

„Das Leben auf der Straße prägt. Diese Menschen sind viel älter, als es auf ihrem Ausweis steht.“

Wie schwierig ist es für Obdachlose eine Wohnung zu finden?
Zurzeit tun sich immer mehr Leute schwer, eine Unterkunft zu finden, man kann sich also vorstellen, wie schwer sich diese Leute tun. Es gibt auch viele, die zwar eine Arbeit haben, aber immer nur befristete Arbeitsverträge für ein paar Monate, beispielsweise in der Landwirtschaft. Sie bekommen kein Arbeitslosengeld und mit unregelmäßigem Einkommen wird Wohnraum unbezahlbar.

Da kommt das Konzept Housing First ins Spiel. Wie genau kann man sich das vorstellen?
Viele Menschen schaffen es nicht, ihre Lebenssituation grundlegend zu ändern. Da sie daher obdachlos bleiben würden, geht das Konzept Housing First einen neuen Weg: Am Anfang steht die eigene Wohnung, in der die Menschen langfristig bleiben können. Mit dem Konzept Housing First bekommt jemand vielleicht zum ersten Mal einen eigenen Wohnraum, den er mit einem Schlüssel abschließen kann. Er findet das erste Mal für sich ein Zuhause. Dort eingezogen, kann er zur Ruhe kommen und muss sich nicht mehr jeden Tag überlegen, wie er zu Essen oder einer Toilette kommt.
Es wird Menschen geben, die wieder Fuß fassen und eine Arbeit finden, aber es wird sicher auch solche geben, die so vom Leben auf der Straße gezeichnet sind und nicht mehr die Möglichkeit dazu haben. Sie können ihre Probleme der Reihe nach angehen, wie ihre Sucht oder psychische Erkrankungen.

Für diese Wohnungen soll das dormizil 2023 umgebaut werden?
Genau. Wir möchten dort Kleinwohnungen schaffen, in denen neun Menschen nach dem Konzept Housing First eine kleine Wohnung erhalten. Im Dachgeschoss können außerdem künftig bis zu fünf Personen in einer vorübergehenden Notunterkunft schlafen: Also für Menschen, die kurz vor der Delogierung stehen, aber eine Arbeit haben oder für Menschen, die auf ihre Wohnung warten und sonst auf der Straße landen würden.
Im Tiefparterre gibt es für Menschen ohne Dach über dem Kopf, die sich in Bozen aufhalten, Duschen und Waschmaschinen. Diese Dinge gibt es zwar vereinzelt in der Stadt, aber weder koordiniert noch mit System.

Im dormizil bekommen Obdachlose einen Schlafplatz und Frühstück.

Wie soll der Umbau finanziert werden?
Mit Spenden. Im Moment sind wir also auf die Großzügigkeit der Südtiroler Gesellschaft angewiesen und wir müssen sagen, dass diese uns gegenüber bisher sehr wohlwollend gestellt ist. Wir werden mit Geld- und Sachspenden arbeiten, aber auch mit Leistungen, die wir kostengünstig oder kostenlos zur Verfügung gestellt bekommen.

Stellen zum Beispiel Handwerker ihre Arbeit kosten zur Verfügung?
Unter anderem auch. Natürlich ist alles eine riesige Koordinationsfrage. So wie wir für das domizil Pakete anbieten – man kann beispielsweise eine Nacht, eine Woche oder ein Frühstück finanzieren –, schnüren wir jetzt für den Umbau Pakete.
Damit werden wir vor allem auch an größere Firmen herantreten, die die Möglichkeit haben, uns eine größere Spende zu machen oder uns mit Sachspenden zu unterstützen. Wir müssen das Haus ja auch einrichten und wir brauchen Fenster, Türen, Böden, Farben für die Wand… Es gibt auch die Möglichkeit, einen Ziegel zu spenden, um das Haus zu bauen.

Wie weit ist die Planung des neuen dormizil?
Wir haben noch nicht die Einreichpläne, aber wir stehen kurz davor.

Und wo sollen die Bewohner in der Zeit des Umbaus leben?
Die Organisation und Koordination einer Nachtschlafstätte ist im Sommer schwieriger und auch wir Freiwillige brauchen eine Verschnaufpause. Wir konnten bisher acht Personen, die im Winter im dormizil gewohnt haben, in privaten Wohnungen unterbringen, dank großzügiger Privater.

„Sie sollen ihr Leben lebenswert führen und sie haben genauso wie alle anderen das Recht, ein Dach über den Kopf zu haben.“

Wohnungen auf Lebzeit?
Auch. Diese Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, denn wir denken immer langfristig. Wenn man den Langzeitobdachlosen eine Unterkunft mit einer Deadline bietet, geraten sie häufig in Krise. Aber es ist natürlich nicht auszuschließen, dass jemand wieder Fuß fasst, eine Arbeit findet und vielleicht irgendwann den Anspruch auf eine Sozialwohnung hat. Man muss sehen, wie sich diese Menschen entwickeln.
Das Konzept bietet aber einen bedingungslosen Vertrag. Das heißt, man sagt nicht: Du bekommst nur eine Wohnung, wenn du Arbeit hast, wenn du das Trinken lässt, wenn du auf Entzug gehst… Das ist nämlich viel leichter gesagt als getan. Es gibt Menschen, die das nicht schaffen. Aber sie sollen trotzdem ihr Leben lebenswert führen und sie haben genauso wie alle anderen das Recht, ein Dach über den Kopf zu haben.

Was würden Sie sich für die Obdachlosen in Bozen wünschen?
Es gibt in Bozen zwar ein Angebot an einzelnen Leistungen, die von verschiedenen Organisationen zur Verfügung gestellt werden, aber meistens ist es jeweils für eine besondere Zielgruppe: zum Beispiel für Drogenabhängige oder nur EU-Bürger. Es fehlen also niederschwellige Strukturen. Und es fehlt ein Gesamtkonzept für Südtirol, eine langfristige gemeinsame Planung von Gemeinden und Land, um dem Problem der Obdachlosigkeit entgegenzuwirken. Jedes Jahr werden im Winter Notschlafstellen eröffnet und im Frühjahr zugesperrt, wissend, dass man in ein paar Monaten vor dem gleichen Problem stehen wird. Und es gibt in ganz Bozen beispielsweise keine öffentlichen Toiletten, außer in Tiefgaragen und da muss man zahlen. Mit dem dormizil möchten wir zumindest eine kleine Lücke schließen.

Die Gründer*innen des Vereins housing first bozen EO. Von links: Norbert Pescosta, Verena von Aufschnaiter, Sigrid Bracchetti, Magdalena Amonn, Martina Schullian, Paul Tschigg, Wolfgang Aumer, Birgit Bragagna Spornberger, Christian Anderlan

Der Verein Housing First Bozen EO will Wohnungs- und Obdachlosigkeit in der Landeshauptstadt nachhaltig bekämpfen, neue Lösungsansätze nach Südtirol bringen und die Gesellschaft zum herausfordernden Thema Wohnungs- und Obdachlosigkeit sensibilisieren. Er ist auf die Unterstützung der Gesellschaft angewiesen.

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