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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 20.03.2020
LebenDumpster Diving in Südtirol

Frisches aus der Tonne

Radikal gegen Lebensmittelverschwendung: Jakob S. zieht nachts los, um frisches Essen aus den Mülltonnen der Supermärkte zu retten.
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Ein gewöhnlicher Freitagabend in Bozen, noch vor Corona. In den Supermärkten der Stadt stehen Menschen an der Kasse Schlange. Sie haben sich bewusst beeilt, um noch vor Ladenschluss um 19.30 Uhr im Geschäft zu sein und die Einkaufstaschen für das Wochenende zu füllen.

Jakob S., 29 Jahre alt, ist nicht unter ihnen. Er macht es sich auf einem Sessel im Gemeinschaftszimmer seiner WG gemütlich und öffnet mit seinen Mitbewohnern noch ein kühles Feierabendbier. Später, wenn die Stadt sich endlich zur Ruhe gelegt hat, kann auch er rausgehen, um Lebensmittel zu holen. „Mindestens eine halbe Stunde nach Ladenschluss muss es sein. Und dunkel“, sagt Jakob.

Seit der junge Berufstätige vor zwei Jahren aus dem Elternhaus ausgezogen ist, bezieht er fast alle Lebensmittel, die er zuhause konsumiert, aus der Tonne. „Inzwischen sind es mindestens 90 Prozent“, schätzt er den Anteil selbst ein. Das Dumpster Diving, mittlerweile ein europaweiter Trend, ist in Bozen nicht leicht – die Mülltonnen der meisten Supermärkte sind oft schwer zugänglich. Jakob hat deshalb vor zwei Jahren alle Supermärkte der Landeshauptstadt abgeklappert und sich eine detaillierte Liste erstellt, an welchem Wochentag bei welchem Supermarkt etwas zu finden ist. Am Ende seiner Recherchearbeit sind Jakob drei bis vier Stammsupermärkte übriggeblieben. Mindestens einmal pro Woche schaut er bei diesen Läden nachts vorbei, um sich zu bedienen. Nachhaltig. Kostenlos. Und illegal.

Gute Gesetzesbrecher

Nach Schätzungen der UN werfen Haushalte in Europa und Nordamerika jeweils zwischen 95 und 115 Kilogramm Essen einfach weg – jedes Jahr. Und das sind nur die privaten Abfälle. Was bereits im Handel, in den Supermärkten und in den Gastbetrieben in die Tonne kommt, erhöht die Zahl weggeworfener Lebensmittel noch einmal dramatisch: Weltweit werden so 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel verschwendet – das sind rund ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel. Allein das Essen, das in Europa und Nordamerika weggeworfen wird, könnte die Hungernden dieser Welt drei Mal ernähren.

Hat seine Stammsupermärkte sorgfältig ausgesucht: Jakob S.

Als Jakob vor etwa zwei Jahren begann, sich mit diesem Thema zu beschäftigen, fand er diese Zahlen absurd. Genauso absurd fand er es mit der Zeit aber, nichts dagegen zu tun. Er erinnerte sich an seine Studentenzeit in Deutschland: Unter seinen damaligen Studienkollegen war es recht verbreitet und wurde sogar als „cool“ angesehen, ab und zu „containern“ zu gehen: sich also Zugang zu den Mülltonnen der Supermärkte zu verschaffen und die Lebensmittel, deren Verfallsdatum noch bevorstand oder erst seit Kurzem verstrichen war, zu „retten“. Dass Dumpster Diving eigentlich verboten ist und in Deutschland als Hausfriedensbruch oder Diebstahl geahndet werden kann, hielt sie nicht davon ab, im Gegenteil: Es lag ein heimlicher Genuss darin, sich wie ein guter Gesetzesbrecher zu fühlen; so radikal nachhaltig zu leben, dass es illegal ist. „Wenn das in Deutschland funktioniert, warum nicht auch in Südtirol?“, fragte sich Jakob damals.

An diesem Abend wird Jakob mir zeigen, wie er vorgeht. Um 21 Uhr verlassen wir seine Wohnung, er ist mit Rucksack, Kapuzenpulli und einem Bandana ausgerüstet, um das Gesicht zu verdecken. Auch in Italien kann man als Dumpster Diver in Schwierigkeiten geraten, Müll wird nämlich automatisch zum Besitz der jeweiligen Gemeinde. Und wer sich diesen Besitz aneignet, macht sich strafbar.

Ein bisschen fühlt es sich an, als würden wir gleich eine Bank ausrauben, aber Jakob bringt mich gleich auf den Boden der Tatsachen zurück: „Wusstest du, dass die Haushalte in Afrika und im südlichen Asien so gut wie gar nichts wegwerfen? Lebensmittelverschwendung ist ein Luxus, der mit dem Wohlstand eines Landes zunimmt.“ Dann schwingt er sich auf sein Rad und fährt los. Nach etwa sechs bis sieben Minuten erreichen wir den ersten Supermarkt, er liegt auf einer der Hauptverkehrsadern der Stadt. Jakob springt von seinem Rad und marschiert in eine Seitenstraße. Hier stehen dicht an dicht die Tonnen des Supermarkes. Jakob öffnet die erste, begutachtet den Inhalt mit spähendem Blick, lässt kurz darauf den Deckel wieder zufallen. Nichts, nur leere Verpackungen. Mit der Ernsthaftigkeit eines erfahrenen Profis wendet sich Jakob der nächsten Tonne zu. Da leuchtet sein Gesicht plötzlich auf: „Jackpot!“

„Normal einkaufen gehen finde ich mittlerweile langweilig.”

„Das gab es schon lange nicht mehr“, sagt Jakob und strahlt. Eine volle Kartonkiste mit Pepsi-Cola, wie frisch aus dem Regal. Dazu mehrere Schachteln Eier, die erst in einer Woche verfallen, eine Packung Bohnen, zum Dessert ein Schokoladenpudding und als Snack zwischendurch: Ritz-Kekse. „Ein bisschen ist das Dumpster Diving wie Geschenke auspacken“, meint Jakob. „Man weiß nie, was man bekommt. Umso mehr freut man sich dann über das, was drinnen ist. Normal einkaufen gehen finde ich mittlerweile langweilig.“

Genau in diesem Moment fährt ein schwarzer Audi A6 heran und hält fünf Meter neben uns vor der roten Ampel. Der Fahrer, ein Mann um die 50, starrt uns an, während Jakob die gefundenen Lebensmittel in seinen Rucksack packt. Ich meine sogar ein leichtes Kopfschütteln zu erkennen. Im Gegensatz zu Jakob habe ich weder eine Kapuze noch ein Bandana, die Situation ist mir plötzlich sehr peinlich. „Was ist, wenn man dich erkennt?“, frage ich ihn. „Deine Arbeitskollegen zum Beispiel? Oder was würden erst deine Eltern sagen?“ – „Begeistert wären sie nicht“, zuckt Jakob mit den Schultern. „Aber ich weiß ja, dass das, was ich mache, richtig ist.“

Großzügige Obdachlose, glotzende Passanten

Nachdem Jakob alles in den Rucksack gepackt hat, schließt er den Müllsack wieder, aus dem er die Lebensmittel entnommen hat und schließt die Tonne. „Respekt ist wichtig“, kommentiert er sein Vorgehen. „Das machen längst nicht alle so. Oft habe ich aufgerissene Müllsäcke gefunden, manchmal lagen auch schon Lebensmittelreste neben der Tonne“.

“Frisches Gemüse findet man eigentlich immer”, berichtet Jakob.

Mindestens genauso verschieden wie die Manieren sind auch die Motivationen, die Menschen haben, wenn sie essbare Abfälle aus der Tonne holen. Junge Leute, die wie er aus Protest gegen unsere Wegwerfgesellschaft bewusst Dumpster Diving betreiben, hat Jakob auf seinen Streifzügen durch Bozen bisher noch keine getroffen. Stattdessen kam einmal ein Kleinwagen angefahren, aus dem drei voluminöse, mit langen Röcken bekleidete Frauen ausstiegen und sich laut und ungeschlacht über die Mülltonnen hermachten. „Hey du, kannst du uns helfen?“, rief eine der Frauen, die schon im offenen Container stand, Jakob zu und hielt ihm einen vollgestopften Sack mit Lebensmitteln entgegen. Jakob, dem die ganze Aktion nicht ganz geheuer war, grüßte allerdings nur und machte sich aus dem Staub.

Ein anderes Mal traf er einen Mann mittleren Alters an, der sich bei den Mülltonnen bereits bediente und über die unerwartete Gesellschaft offensichtlich erfreut war. „Hier ist genug für alle da“, sagte der Mann, den Jakob nach seinem Äußeren als Obdachlosen identifizierte. Er reichte Jakob ein Brot, das jedoch schwarz beschmiert war. Auch sonst entsprachen die Containerinhalte dieses Mal Jakobs hygienischen Standards nicht ganz. Er bedankte sich und fuhr weiter.

In Italien gibt es bereits seit 2003 ein Gesetz, das die Verschwendung von Lebensmitteln einschränken soll. Trotzdem kommt Jakob jedes Mal mit einem vollen Rucksack nach Hause.

„Es gibt vier Kriterien, um zu bestimmen, welcher Supermarkt sich fürs Dumpster Diving gut eignet“, erklärt Jakob. Das erste Kriterium sei die Zugänglichkeit: Viele Supermärkte, besonders deutsche Ketten wie Aldi, bewahren ihren Abfall innerhalb des Supermarktgebäudes auf oder sie sperren die Mülltonnen mit Schlössern ab. Andere wiederum mischen alle Abfälle zusammen und beschmutzen oder beschädigen sie absichtlich, um Leute wie Jakob fernzuhalten. In diesem Fall wäre das Kriterium der Hygiene verletzt. Wegen des unsicheren Rechtsstatus seiner Nahrungsbeschaffung hält sich Jakob außerdem von Überwachungskameras fern. Und zu guter Letzt achtet er darauf, dass die Mülltonnen nicht zu exponiert sind. Eine zufällig vorbeifahrende Polizeistreife könnte nämlich auch Probleme bereiten.

Sogar Ostereier waren schon dabei.

Dieses letzte Kriterium erfüllt der nächste Supermarkt, wo Jakob mich heute noch hinführt, besonders gut. Er stellt sein Fahrrad vor dem Geschäft ab, geht dann auf ein Torgitter zu. Plötzlich dreht er sich um und grinst mich an. Am unteren Ende des Torgitters sind gute 30 Zentimeter Platz, wo Jakob sich sogleich mühelos hindurchzwängt, um mir von der anderen Seite aus das Tor zu öffnen. „Das ist einer der besten Plätze!“, triumphiert er. Die Mülltonnen, die von indiskreten Blicken gut abgeschottet in einem Hinterhof liegen, sind tatsächlich gut sortiert. Eine Tonne ist bis zur Hälfte mit Brot gefüllt, die andere mit offenbar noch frischem Gemüse: Zucchini, Melanzane, Fenchel, Tomaten, Gurken. Wieder das selbe Ritual: Jakob nimmt seinen Rucksack ab, wählt die besten Stücke aus und legt sie hinein. „Das war’s“, sagt er. „Mit dem, was ich bereits zuhause hab, reicht das jetzt für die nächsten Tage.“

Zurück in der WG breitet Jakob den heutigen Ertrag auf seinem Küchentisch aus. Wenn ich nicht soeben dabei gewesen wäre, hätte ich keinen Augenblick gezweifelt, dass das alles aus sorgfältig sortierten Supermarktregalen stammt – so frisch und makellos sehen das Brot, die Bananen und Zitronen aus, ganz zu schweigen von den noch verpackten Lebensmitteln. In Italien gibt es bereits seit 2003 ein Gesetz, das die Verschwendung von Lebensmitteln einschränken und die Verteilung an Bedürftige erleichtern soll. Trotzdem kommt Jakob jedes Mal mit einem vollen Rucksack nach Hause. „Es wird einfach nach wie vor viel zu viel weggeworfen“, sagt er und bietet mir an, von unserer Ausbeute selbst etwas mit nach Hause zu nehmen. Ohne lange zu zögern, entscheide ich mich für: ein Spitzkornbrot, zwei Bananen, zwei Pepsi und eine Schachtel Eier.

Anmerkung: Jakob S. heißt in Wirklichkeit anders. Während des aktuellen Lockdowns vermisst er das Dumpster Diving am meisten, sagt er. Das Einkaufen mit einer vorgefertigten Einkaufsliste sei er einfach nicht mehr gewohnt.

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