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Veröffentlicht
am 09.04.2014
LebenEingesperrt

Ein harter Schlag

Veröffentlicht
am 09.04.2014
Agnes darf aus dem Therapiealltag ausbrechen und endlich für einen Tag nach Hause. Aber es ist ein trauriger Anlass: Die Beerdigung ihrer Schwester.
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Drei Wochen nach meinem Eintritt in die Therapiegemeinschaft kann ich das erste Gespräch mit meinem Betreuer führen. Er ist ein Psychologe aus Neapel, zwischen 30 und 40 Jahre alt, schwarze Haare, Bart, kinderlos, sieht aus als würde er alles ganz locker nehmen. Er ist der einzige Mann in der ganzen Struktur. Innerhalb von drei Monaten führt er mit mir nur drei Gespräche, anstatt wie vorgesehen eines pro Woche. Ich und andere Neuankömmlinge beschweren uns darüber, worauf er antwortet: „ Jedes Mal , wenn ihr ins Büro kommt, um mich etwas zu fragen, dann ist das ein Gespräch …“ Für die Gruppengespräche der Aufnahmephase gibt er uns die Aufgabe, Berichte über Themen zu schreiben, wie zum Beispiel: „Welche Maske tragen wir inmitten der anderen?“ „Das Weinen“ oder über unsere Therapiegemeinschaft „Il Sorriso“. Mit Hilfe des Miniwörterbuchs, das mir der Gefängniskaplan noch in Bologna besorgt hat, schreibe ich die Berichte. Die Gespräche mit den vielen therapeutischen Ausdrücken bereiten mir große Mühe. Ich muss immer wieder nachfragen, was dies und das bedeutet. Auch reden einige Frauen unheimlich schnell mit den verschiedensten Akzenten, sodass ich gar nichts verstehe. Sie kommen aus Rom, Neapel, Apulien, Florenz, Rimini usw. „Bitte, ich habe nicht verstanden?!“ wird ein häufiger Satz von mir. Die Betreuer behaupten, dass ich alles verstehen würde und ich nur so tun würde als ob.
Ich würde mich am liebsten zurückziehen und mich in die Malerei vertiefen, aber wir sollten uns in die Gemeinschaft integrieren und überall mitmachen, so tue ich das auch. Meine Kunsttherapeutin vom Gefängnis hat sich freiwillig bereit erklärt, mich gelegentlich zu besuchen, um unsere Aquarellmalereien zu pflegen. Dieser Vorschlag wird sofort abgelehnt, was mir sehr leid tut.

Mein Küchendienst

Anfang Oktober werde ich für fünf Wochen für die Küchenarbeit in der Villa eingeteilt. Meine Wirbelsäule ist noch keineswegs in Ordnung, obwohl ich mittlerweile ohne Korsett laufe. Ich warte immer noch auf die Magnetresonanz und mache seit zehn Monaten eine selbst erfundene Physiotherapie. Auf keinen Fall darf ich schwere Lasten tragen. In der Küche sind wir jedoch zu zweit und ich kann die leichteren Arbeiten verrichten, außerdem habe ich dort eine Beschäftigung und die Zeit geht schnell vorbei. Es ist sehr anstrengend, trotzdem genieße ich es, endlich etwas zu arbeiten, und merke, dass ich es überhaupt nicht mehr gewohnt bin.
Das fertige Essen wird uns in großen Behältern von der Küche der Männerstruktur geschickt. Es ist sehr gut und vielfältig. Zum Frühstück gibt es sogar Butter und Honig. Für mich ist das herrlich. Sonntagabends dürfen die Frauen abwechselnd selbst kochen. So bleibt uns das Frühstück, Salate, Getränke und Obst bereiten, Kaffee machen, Tische decken, servieren, abspülen, putzen usw. Kaffee gibt es für jeden einen in der Früh und einen zu Mittag, außer jemand hat eine Strafe bekommen, dann bekommt er keinen. Und wehe dem, der seinen Kaffee nicht selbst trinkt. Für insgesamt etwa 30 Leute inklusive fünf bis sechs Kinder im Alter zwischen 0 und 7 Jahren haben wir jede Menge zu tun. Mülltrennung gibt es keine, auch nicht für den organischen Müll. Das finde ich schrecklich. Teller, Besteck und Plastikbecher sind Wegwerfgeschirr. Der Hygiene wegen, heißt es, werden keine normalen Teller verwendet und es gibt keine Abspülmaschine.

Es wird mir alles zu viel: Fünf Wochen ohne freien Tag, dazu das ganze Therapieprogramm und die Gespräche, und abends müssen wir von halb zehn Uhr bis fast Mitternacht gemeinsam Spiele spielen oder einen Film anschauen. Nein, sie lassen mich nicht früher schlafen gehen und am Ende der fünf Wochen ist Turnuswechsel und man muss verdammt gut aufpassen, alle Regeln in der Küche zu befolgen. Wenn man nur am letzten Tag vergisst, die Marende der Equipe im oberen Stockwerk vom Versammlungsraum abzuräumen, dann gibt es eine Strafe, auch wenn man sonst alles perfekt gemacht hat und noch eine Generalreinigung machen muss. Keinen Cent bekommen wir dafür bezahlt. „Gibt es als Abschluss für die Einsatzbereitschaft in der Küche keine Anerkennung, einen Kuchen für alle oder sonst irgendwas?“, frage ich ganz höflich eine Betreuerin. „Nein, heute beendet ihr die Arbeit und morgen kommen zwei andere“, antwortet sie kurz angebunden mit einem Grinsen im Gesicht. Nicht mal ein Dankeschön oder „gut gemacht“ gibt es, so als wäre nichts gewesen. Das darf doch nicht wahr sein! Wie kann man so kalt sein, frage ich mich, wozu das alles!? Ich möchte nur nach Hause. Fast ein Jahr schon bin ich eingesperrt, mir kommt es schon vor wie fünf Jahre. Mir fehlen meine Kinder so sehr, das Orgelspiel, mein Zuhause! Mein Kontakt mit der Außenwelt wird durch die eingeschränkte Post auch immer weniger. Es fehlt hier die Liebe zum Schönen!

Etwas Privates gibt es hier nicht

Ende November erreicht mich ein Brief von meiner ältesten Schwester: „Liebe Agnes! Vielen Dank für Deinen Brief und die zuversichtliche Nachricht, dass Du wieder einen Teil der Schwierigkeiten bewältigt hast und es Dir soweit gut geht. Genau vor einem Jahr, bei Mutters Beerdigung um13.30 Uhr haben wir uns das letzte Mal gesehen und ich glaube das letzte Mal. Manchmal denke ich Weihnachten nicht mehr zu erreichen. Momentan geht es mir relativ gut. Gestern war es auch so, hab zum ersten Mal den Backofen in Betrieb genommen, die Stimmung war perfekt mit starkem Schneefall draußen (1/2 m) und guter Laune drinnen. Das ist das letzte, bei dem die Zellveränderungen, Wucherungen, Schmerzen, Blähungen, zum Teil Durchfall mit Krämpfen, starke Wasserbildung, geschwollene Beine, drei neue Tumore (Brust, Bauch, Lungen) keine Chance haben. Ob ich im Frühjahr den Garten noch schaffe … Manchmal meldet sich eine Stimme mit der Aufforderung, sei nicht faul, tu was, wirst sehen es geht dir besser … ich lass Dich ganz lieb grüßen … leg Dir noch ein Foto von Mama bei …“

Die in Deutsch geschriebenen Briefe muss ich den Betreuern auf Italienisch übersetzen und vorlesen, was sehr unangenehm ist. Etwas Privates scheint es hier nicht zu geben. Das beweisen auch die Klosetts, deren Türen nicht schließbar sind, ebenso unsere Zimmertüren. Meine aufkommenden Emotionen behalte ich für mich. Ich weiß, sie möchten mich gerne weinend sehen. Sie haben mir schon gesagt, ich sei zu verschlossen, weil ich nie weinte. Am liebsten würde ich ihnen einen Unsinn übersetzen, dazu fehlt mir jedoch die Schlagfertigkeit. Ich beherrsche mich und denke an das erste Gebot eines Gefangenen: gute Führung.

Um Weihnachten darf ich mit meiner Schwester noch telefonieren. Es ist offensichtlich, ihre letzten Kräfte schwinden, ihre Stimme klingt leise und schwach, sie schafft es kaum für zehn Minuten zu reden. Seit Jahren lebte sie mit Krebs und trotzdem mit einer unglaublichen Kraft, Lebensfreude und Herzlichkeit. Wir waren vor meiner Verhaftung zusammen im Krankenhaus. Sie besuchte mich, als ich wegen meiner Wirbelsäule einen Monat im Rollstuhl war. Sie war für mich immer wie eine zweite Mutter. Ich möchte sie unbedingt noch sehen! „Könntet ihr beim Gericht ansuchen, dass ich nach Hause darf, um meine Schwester nochmals zu besuchen?“, bitte ich meine Betreuer. Wenn ein Familienmitglied im Sterben liegt, darf normalerweise jeder Inhaftierte ein paar Tage nach Hause, mit oder ohne Aufsicht. „Da müssen wir warten, momentan gibt es kein zuständiges Gericht, wo wir ansuchen könnten, weil dein Fall von Trient nach Bologna verlegt wird und das braucht Zeit …“, teilen sie mir mit und sogar meine Anwältin bestätigt dies.

Meine liebe Schwester stirbt

Ich verstehe gar nichts mehr, warte Woche für Woche und frage wieder und wieder. Nichts passiert. Ich frage schließlich den Maresciallo, der fast jeden Tag zur Kontrolle kommt und immer freundlich ist. „Es gibt keinen Häftling ohne zuständigen Richter, das ist unmöglich. Wenn ein Notfall wäre oder irgendetwas passieren würde, alles muss gemeldet werden“, erklärt er mir. Das klingt eigentlich logisch. Sofort informiere ich darüber die neue Betreuerin der Motivationsphase. Ich bin inzwischen eine Phase weitergekommen und in jeder Phase wechseln die Betreuer. Daraufhin kommt die Verantwortliche der Therapiegemeinschaft und wendet sich mit folgenden Worten an mich: „Nein, wir hatten schon mal einen solchen Fall, da gibt es keine Zuständigkeit, wir müssen warten bis alles nach Bologna geschickt worden ist.“ Und wieder ist alles blockiert. Ich könnte auch abhauen, den Waldweg rauf, oder die vorgeschriebene Grenze beim Abfallcontainer, die genau hundert Schritte von der Villa entfernt ist, überschreiten und den Weg in die Felder nehmen, oder einfach die Straße runter laufen. Nein, das kommt nicht in Frage, ich will alles in Ordnung bringen, denke ich mir. Weitere Wochen verstreichen und am 13. Februar 2009 stirbt meine liebe Schwester. Jetzt erkundigen sie sich und erfahren, dass mein zuständiges Gericht in Bozen ist und suchen an, um mich zur Beerdigung nach Hause zu begleiten.

Agnes malte dieses Bild in der Therapiegemeinschaft. Die Sonnenblumen stellen ihre noch lebenden Familienmitglieder dar, die freien Seelen am Himmel jene, die bereits verstorben sind.

Am Tag der Beerdigung, nach einer fünfstündigen Fahrt mit zwei unserer Betreuerinnen erreichen wir meine Heimat, eine ruhige Winterlandschaft in Schnee gekleidet. Mir scheint, also ob ich eine Ewigkeit fort gewesen wäre, meine Muttersprache klingt mir fremd. Es ist noch Zeit für ein Mittagessen in einem Restaurant. „Darf ich meine Tochter anrufen, dass sie hierher kommen könnte?“, frage ich. „Nein!“, ist die Antwort. Mein Zuhause darf ich auch nicht aufsuchen, obwohl es die Zeit erlauben würde. Wir werden sicher nach der Beerdigung bei meiner Familie etwas verweilen, tröste ich mich. Eine kurze Begrüßung von wenigen Bekannten kurz vor der Messe ist mir auf dem Friedhof vergönnt. Kaum ist die Zeremonie vorbei, stresst eine der Betreuerinnen: „Wir müssen gehen!“ „Bitte?! Jetzt?!“ frage ich. „Wenn du noch bleiben möchtest, musst du die andere Betreuerin fragen, sie ist beim Auto!“ Wir begeben uns zum Auto. „Kann ich bitte noch kurz mit meinen Leuten sprechen?“, frage ich die andere Betreuerin. „Nein, wir müssen fahren!“, antwortet sie. Ich: „Darf ich mich nur noch ganz kurz von ihnen verabschieden?“ Beide Betreuerinnen bestehen darauf, dass ich nicht mehr zum Friedhof darf: „Nein, steig jetzt in das Auto ein und wir fahren. Steig ein!“ „Meine Lieben wissen nicht mal, dass ich schon gehen muss! Ich werde mich wohl noch ganz kurz verabschieden dürfen?!Bitte!“, bettle ich. „Steig jetzt in das Auto ein!“ Zögernd und verbittert, ohne weitere Worte steige ich in ihren PKW, ohne mich von meinen Lieben verabschieden zu dürfen. Die Reise geht gleich wieder zurück in die Apenninen in die Therapiegemeinschaft „Il Sorriso“. Kaum ein Wort wechsle ich dabei mit ihnen. Es ist grauenhaft.

So als wäre alles gut, geht am nächsten Tag die Therapie weiter. Den Frauen erzähle ich nicht viel. Es ist Vorsicht geboten, wenn man über die Betreuer spricht. Alle sind eingeschüchtert. Die einzige, mit der ich offen reden kann, ist unsere Nachtfrau. Sie ist sehr liebevoll und hat Verständnis. Ich finde auch Zerstreuung bei den kleinen Kindern, die ich gerne beaufsichtige, wenn ihre Mütter die Therapiegespräche führen. Seit wenigen Wochen darf ich mich für eine Stunde am Tag mit Musik beschäftigen. Ein alter Pfarrer, der unsere Therapiegemeinschaft ab und zu besucht, hat mir zu Weihnachten eine elektronische Orgel gebracht. Er würde uns auch zu den Sonntagsmessen in das Nachbardorf bringen, aber das interessiert niemanden und ich darf nicht zur Messe, weil sie dafür auf dem Gericht nicht ansuchen, meine Betreuer.

Von Agnes S.

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