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Illustrations by Sarah
Teseo La Marca
Veröffentlicht
am 15.01.2018
LebenBis ans Ende der Straße

Daumen raus!

Am Straßenrand stehen, Daumen ausstrecken und mit dem nächsten Auto mitfahren: So geht Hitchhiken. Dass Serienmörder anhalten, ist eher die Ausnahme.
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Hitchhiking_in_Kraków.jpg

Neujahrstag 2018. Um 4 Uhr morgens befinde ich mich endlich in meinem Auto auf dem Nachhauseweg, das heißt: auf der Straße, die von Gröden zurück in die Zivilisation führt. Als ich bei St. Christina einen jungen Mann am Straßenrand erblicke, verzweifelt seinen Daumen ausstreckend und sichtlich angeschlagen von Kälte und Alkohol, fahre ich rechts ran und entsperre die Tür. Wenn man einmal selbst so am Straßenrand stand, kann man kaum vorüberfahren und dann noch ruhig schlafen. Heilfroh und in typischer Grödner-Manier fängt der Bursche an, lautstark über sein Unglück zu klagen. Kein Schwein, das ihn bisher mitgenommen hat, schon eine Stunde lang! Woran das liegen mag? „Ach die Leute denken wohl, das sei gefährlich“, seufzt er. „Und du denkst das nicht?“, frage ich. Schließlich könnte es statt mir ja ein wahnsinniger Serienmörder sein, der für ihn anhält. „Ich gebe keinen Scheiß mehr auf Gefahr. Lieber einen Serienmörder, als zu erfrieren“, antwortet der Gestrandete und steigt in St. Ulrich schließlich unter Dutzenden Dankesbekundungen aus.

Das mit dem Serienmörder meinte ich natürlich zum Spaß. Aber es erinnerte mich an gewisse Bedenken meiner Familie, die ernst gemeint waren, als ich zum ersten Mal selbst auf diese Art und Weise reisen wollte. Für solche Sorgen muss man Verständnis zeigen. In Ostanatolien oder auf dem Balkan per Anhalter zu reisen, ist schließlich etwas ganz Anderes als vom Zenti’s in Klobenstein nach Oberbozen zu autostoppen, wenn der Nightliner nicht kommt. Hier bei uns wird man wenigstens einigermaßen sicher nach Hause gebracht. Dort drüben hingegen wird man auch noch zum Tee eingeladen.

Das Gefährliche beim Hitchhiken sind nicht die Menschen an sich. Wenn, dann ist es ihr Fahrstil.

Das Gefährliche beim Autostoppen bzw. Hitchhiken sind nicht die Menschen an sich. Wenn, dann ist es ihr Fahrstil. Geht man in Richtung Orient, so sehen die Sitten am Steuer schon in den ersten Ostblock-Ländern etwas anders aus. Das Handy zum Beispiel: Damit wird dort lockerer umgegangen. Während des Lenkens noch mit dem Smartphone zu schreiben, das gehört in manchen Teilen der Welt zum Autofahren dazu wie das Gangschalten. Eine SMS an die Frau, an die Kinder, an den Kollegen in der Arbeit, dann noch an zehn Freunde, um den Feierabend zu organisieren. Als biederer westeuropäischer Beifahrer kann man da schon zuweilen ins Schwitzen kommen.

Und dann gibt es natürlich solche, die selbst in Ländern mit laxeren Polizeikontrollen zu den kriminellen Straßenraudis gehören (solche, die bei uns nicht einmal den Fahrradführerschein schaffen). Das sind diejenigen, die zwar nicht regelgemäß, dafür aber regelmäßig im Tunnel überholen oder auf kurvigen, nassen Landstraßen auf über 150 km/h beschleunigen. Bei manchen Fahrern kommen die Zweifel schon auf, bevor man überhaupt einsteigt. Zum Beispiel, wenn der Steuermann eine Bierflasche in der Hand hält und sein Beifahrer an einem Joint zieht. Das kam auch schon vor. Matthias, der Freund, der zusammen mit mir per Anhalter durch den Balkan gereist ist, fand solche Situationen besonders lustig. Oft haben wir uns gestritten, was eigentlich gefährlicher ist: mit solchen Wahnsinnigen mitzufahren oder bei schnellem Verkehr am Straßenrand entlangzugehen. Ich plädierte entschieden fürs Erste, er für das Zweite.

Hitchhiken – das originellste Fortbewegungsmittel

Solche Fälle sind aber die Ausnahme. Und selbst dann kann man immer noch frühzeitig aussteigen. Was Hitchhiken zum originellsten Fortbewegungsmittel macht, sind aber nichtsdestotrotz die Menschen, die am Steuer sitzen. Eines von unzähligen Beispielen: Jàsmin. Der 32-jährige Familienvater, dessen Traumjob es war, Touristenführer zu werden, nahm Matthias und mich von der kroatischen Grenze quer durch Bosnien nach Sarajevo mit, 300 Kilometer. Unterwegs lud er uns zum Essen ein, machte Umwege, um uns spektakuläre Wasserfälle zu zeigen, erklärte uns die Geschichte seiner faszinierenden Heimat. Er erzählte uns aber auch von sich selbst. Wie er als Kind im serbisch belagerten Sarajevo täglich mehrere Kilometer gehen musste, um Wasser und ein bisschen Nahrung zu holen, immer wieder gebückt oder rennend, auf der Hut vor den Snipern, die von den umliegenden Hügeln her auf die Menschen zielten. Wie er dann einmal seinen gleichaltrigen Cousin im Garten liegend auffand, mit einem Einschussloch in der Stirn. Oder wie er später mit seiner Familie nach Rotterdam floh, wo sie sich als Flüchtlinge durchschlugen.

Jedes Auto, das anhält, kann für eine neue Lebensgeschichte stehen, einen neuen Freund, eine neue Richtung.

Wenn der Anhalter zufällig auch ein Touristenführer in spe ist, hat das seine Vorteile: Wasserfälle in Bosnien.

Man weiß nie, wer einen mitnimmt. Jedes Auto, das anhält, kann für eine neue Lebensgeschichte stehen, die man kennenlernt, einen neuen Freund, den man trifft, eine neue Richtung, die die Reise einschlägt. Doch eines bleibt fast allen Begegnungen gemeinsam. Hitchhiken ist das erprobteste Mittel, um die besten, weltoffensten und hilfsbereitesten Menschen in jedem Land kennenzulernen. Hinter der Rezeption im Hotel steht vielleicht ein Arschloch. Der Touristenführer ist vielleicht auch eins. Oder der Kellner im Restaurant. Aber wer für zwei heruntergekommene Reisende am Straßenrand anhält, um sie kostenlos ein Stück mitzunehmen und ihnen die eigene Heimat zu zeigen, der ist bestimmt keines.

Für diese Erlebnisse gebe ich gerne etwas Komfort auf. Und eigentlich macht genau das die große Faszination des Reisens auf diese Art und Weise aus. Man ist beim Hitchhiken plötzlich gezwungen, Fragen nachzugehen, die man sich sonst nie gestellt hat: Wo schlafe ich heute? Wann finde ich wieder etwas zum Essen oder Trinken? Werden die Wetterbedingungen günstig sein? Es gibt wenige andere Fragen, die den Menschen so sehr in die Absolutheit der Gegenwart zurückzuversetzen vermögen. Der Augenblick und seine tausend Eindrücke entziehen sich der farblosen Anonymität der Gewohnheit, sie gehören einer anderen Kategorie an und brennen sich deshalb ein ins Gedächtnis. Noch heute könnte ich detailgenau sagen, was an jedem einzelnen Tag einer solchen wochen- oder monatelangen Reise geschah. Dabei kann ich mich oft kaum erinnern – jetzt, im „normalen“ Leben – was ich noch am gestrigen Tag gemacht habe. Jedenfalls bin ich froh, damals kein Flugzeug genommen zu haben.

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