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Thomas Vonmetz
Veröffentlicht
am 03.05.2022
LebenHäusliche Gewalt

„Ich war ein Vogel im Käfig“

Veröffentlicht
am 03.05.2022
Häusliche Gewalt findet im Verborgenen statt und bleibt ein Tabu. Warum fällt es Frauen oft schwer, sich daraus zu befreien? Eine Betroffene erzählt.
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Nora (Name von der Redaktion geändert) ist 45 Jahre alt und hat drei Kinder. Sie arbeitet vier Stunden am Tag als private Pflegekraft, doch in erster Linie ist sie Mutter. Seit kurzem arbeitet sie auch in einer Sozialgenossenschaft, die Nachmittagsbetreuung für Kinder anbietet. Im Interview schildert sie offen ihre schmerzhaften Erlebnisse mit häuslicher Gewalt, und wie ihre Kinder dabei geholfen haben, der Gewaltspirale zu entkommen.

Mittlerweile hat Nora die Liebe gefunden und lebt glücklich in einer Partnerschaft.

Wann hast du das erste Mal häusliche Gewalt erfahren?
Es gab bereits vor der Hochzeit mehrere Vorfälle, die mir hätten zeigen sollen, dass er seine Aggressionen nicht unter Kontrolle hat. Einmal hatte mein Mann einen Wutanfall, und schlug auf den Kleiderschrank, sodass ein Loch entstand. Einmal warf er mir ein Messer vor die Füße. Kurz vor der Hochzeit begann er mit dem Trinken. In der Hochzeitsnacht warf ich ihm scherzhaft einen Kuchen ins Gesicht und er hatte einen gewaltigen Wutausbruch. Die Alarmglocken hätten längst läuten sollen, doch ich war blind vor Liebe. Ein Wort, von dem ich nicht wusste, was es bedeutet. Ich heiratete, weil ich meinem Elternhaus entfliehen wollte. Ich musste dies tun, um ein besseres Leben zu haben. Einige Monate nach der Hochzeit ohrfeigte er mich zum ersten Mal heftig und ich fiel auf den Boden. Ich behielt es für mich.

Hast du ab diesem Zeitpunkt auch andere Formen von Gewalt erlebt?
Ich erlebte viele Formen von Gewalt, neben der physischen auch psychische und ökonomische Gewalt. Seit Beginn unserer Ehe hatten wir finanzielle Schwierigkeiten. Mein Monatsgehalt floss in das gemeinsame Konto, das mein Mann kontrollierte. Viel von unserem Geld verspielte er und neben der häuslichen Gewalt kam eine Alkohol- und Spielsucht hinzu.

Was geht einem durch den Kopf, wenn man häusliche Gewalt erlebt?
Ich war betroffen, traurig und enttäuscht. Ich gab mir selbst die Schuld beziehungsweise suchte nach Fehlern meinerseits, die diese Gewalt auslösten. Ich dachte mir es sind Ausrutscher, die mit Sicherheit aufhören würden. Am Anfang kam die physische Gewalt selten vor, doch je stärker die Alkoholsucht meines Mannes wurde, desto aggressiver wurde er. Noch schlimmer war für mich die psychische Gewalt. Er schrieb mir vor, wann genau ich zuhause sein sollte. Er degradierte mich in unzähligen Situationen und sagte mir immer wieder: „Du bist zu nichts im Stande und nichts wert.“ Ich war ein Vogel im Käfig. Auch in der Fürsorge der Kinder und im Haushalt war er keine Hilfe. Er war nur eine riesengroße Belastung.

Erhebungen weisen darauf hin, dass rund ein Drittel aller Frauen weltweit mindestens einmal in ihrem Leben von häuslicher Gewalt betroffen ist. In Südtirol haben sich im Jahr 2021 mehr als 600 Frauen an die Gewalt-Kontaktstellen gewandt. Die Dunkelziffer dürfte aber viel höher liegen.

Welche Rolle spielten deine Kinder in der Situation?

Beim ersten Kind dachte ich, dass es ein Geschenk der Liebe sei. Ich war zwei Monate vor der Hochzeit schwanger. Ich hatte die romantische Hoffnung, gemeinsam eine Familie zu gründen und das Glück zu finden. Deshalb redete ich mir immer ein: „Es wird besser werden.“ In der zweiten Schwangerschaft war ich überglücklich, denn ich wünschte mir immer einen Sohn. Die Liebe zu meinen Kindern hat mir die Kraft gegeben, die häusliche Gewalt irgendwie zu ertragen. Die letzten beiden Kinder waren kein Resultat der Liebe, sondern schlicht und einfach die Hoffnung auf Besserung.

In welchen Situationen trat die Gewalt auf?
Immer dann, wann ich etwas tat, was er nicht wollte. Ich habe mich immer so verhalten, dass er zufrieden war und sich ja nicht aufregte. Ich hatte ständig Angst vor der nächsten Ohrfeige. Als die Kinder noch klein waren, stellte der Raum rund um die Betten, den besten Schutz vor den Ohrfeigen dar. Trotzdem hat er mir dort den Finger gebrochen. Meinen Eltern sagte ich, ich sei die Stiegen runtergefallen. Später sagte ich ihnen die Wahrheit, doch sie rieten mir bei meinem Mann zu bleiben, und dass es besser werden würde. Auch meine Eltern sagten mir immer wieder, ich sei nichts wert. Ich sehe es heute so, dass ich durch meine Eltern keinen tollen Mann finden konnte. Ich bin von einem Käfig in den nächsten gekommen.

Er drohte mir immer mit Suizid, falls ich ihn verlassen sollte.

Kannst du dir die Gewalt deines Ex-Mannes erklären?
Ja, das kann ich. Ich hatte immer viel zu viel Mitleid mit ihm. Er drohte mir immer mit Suizid, falls ich ihn verlassen sollte. Sein Vater war auch Alkoholiker und seine Mutter ließ sich scheiden. Der Vater konnte anschließend nicht den Unterhalt für die Kinder zahlen, sie auch nicht mehr sehen und beging daraufhin Suizid. Ich dachte folglich, dass wenn ich ihn verlassen würde, dann suizidiert er sich ebenso. Im Nachhinein kommen mir immer die Tränen, wenn ich daran denke, dass ich 13 Jahre meines Lebens weggeschmissen habe.

Wieso bist du so lange Zeit bei ihm geblieben?
Ich glaube mittlerweile, dass meine Erziehung ausschlaggebend war. Der katholische Glauben meiner Eltern hat sicherlich Spuren bei mir hinterlassen. Meine Naivität – alles wird besser werden – war eng mit dem Credo „in guten wie in schlechten Zeiten“ verbunden. Weiters wollte ich nicht, dass meine Kinder ohne Vater aufwachsen. Rückblickend kann ich mir meine Verhaltensweisen nicht rational erklären. Es war immer ein Hoffen und ein Verzeihen mit im Spiel.

Wann hast du beschlossen, deinen Mann zu verlassen?
Im Jahr 2015. In dieser Zeit hatte ich enorme berufliche Probleme und verlor sogar meine Arbeitsstelle. Dies führte – gekoppelt mit der furchtbaren Situation zuhause – zu einem Nervenzusammenbruch. In der Psychiatrie habe ich angegeben, dass ich häusliche Gewalt erlebte. Sofort wurden die Sozialdienste alarmiert, die mir sofort drohten, wenn ich keine Anzeige erstatte, dann würden sie mir die Kinder wegnehmen. Das tat ich dann, obwohl ich nicht wollte.

Was geschah nach der Anzeige?
Das war eine sehr schwierige Zeit. Mein Mann kam ins Krankenhaus, da er aufgrund seiner Alkoholsucht Schwierigkeiten beim Gehen hatte. Er musste auch Rehabilitation machen. Ich hatte ständig Angst, dass er wieder nach Hause kommt. Als er entlassen wurde, dumm wie ich war, habe ich akzeptiert, dass er wieder bei uns lebt. Ich hatte immer noch Mitleid. Die Gewalt fing wieder an und er bedrohte mich mit seinen Krücken. Ich war immer noch im Käfig gefangen. In der Osterzeit 2015 ist mein Mann um vier Uhr morgens aufgestanden und ging wie ein Verrückter auf Krücken den Gang auf und ab. Ich und meine Kinder wurden wach und er bedrohte uns alle – nur mit Mühe beruhigte er sich wieder.

Nach diesem Erlebnis begann ich bei meinen Eltern zu übernachten und da fasste ich plötzlich den Entschluss, ihn zu verlassen. Ich holte meine Kinder zu meinen Eltern. Die Sozialdienste legten mir nahe, ein Frauenhaus aufzusuchen. Ich willigte ein. Eine Richterin legte schlussendlich rechtlich fest, dass mein Mann das gemeinsame Haus zu verlassen habe. Die Carabinieri mussten sogar einschreiten, um das zu verwirklichen. Einige Tage später verabschiedete er sich in Anwesenheit der Carabinieri von den Kindern und ging zurück in seine Heimatgemeinde.

Wie haben deine Kinder auf diese Situation reagiert?
Zwei Kinder waren noch zu klein. Meine älteste Tochter hingegen gibt mir auch heute noch die Schuld für vieles. Sie verteidigt sogar ihren Vater. Sie wirft mir vor, sie allein gelassen zu haben, als der Vater ging. In dieser Zeit ging es mir sehr schlecht und ich musste zu mir selbst finden. Ich konnte damals nicht eine gute Mutter sein. Meine Kinder haben eine pädagogische Einrichtung besucht, die gerichtlich festgelegt wurde. Es war eine Art Nachmittagsbetreuung. Dort hat meine Tochter die Hilfe bekommen, die ich ihr nicht geben konnte. Die Sozialassistentin war damals mit dem Gericht in Kontakt, da es mir schlecht ging und im Raum stand, mir die Kinder zu entziehen. Das war für mich die Hölle auf Erden, doch auch meine Kinder litten sehr.

Frauen sollen keine Angst haben oder sich schämen. Ein anderes und besseres Leben ist möglich.

Wie können Frauen in Gewaltsituationen unterstützt werden?
Erst vor kurzem wurde der staatliche Beitrag „Unterstützung der Autonomie“ eingeführt. Frauen, die häusliche Gewalt anzeigen und sich Hilfe holen, bekommen eine finanzielle Unterstützung von 400 Euro im Monat. Das ist unglaublich wichtig, denn, wie ich, können sich viele Frauen auch aus Geldgründen nicht von ihren Partnern trennen. Weiters müssen betroffene Frauen die Sozialdienste in Anspruch nehmen – durch ihnen wurde ich ein neuer Mensch. Ich erfuhr Empowerment, wurde stark und selbstbewusst. Frauen sollen keine Angst haben oder sich schämen. Ein anderes und besseres Leben ist möglich.

Was hat dich dazu bewegt, deine Geschichte öffentlich zu erzählen?
Ich bin Opfer von häuslicher Gewalt und habe durch diese Betroffenheit natürlich einen tiefen Zugang zu dieser Thematik. Ich habe auch jahrelang psychologische Hilfe in Anspruch genommen. Man kann sagen, dass ich eine Art Expertin geworden bin. Häusliche Gewalt zu offenbaren – auch der Familie gegenüber – ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Eine Ohrfeige wird schnell zu etwas „Normalem“, ja fast alltäglichem. Ich bin froh, meine Geschichte erzählen zu können, um anderen Frauen aufzuzeigen, dass sie nicht in häuslicher Gewalt gefangen sind und es Auswege gibt.

Frauen, die Gewaltsituation ausgesetzt sind, können sich an den Frauenhausdienst des Landes wenden.

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