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Julia Tappeiner
Veröffentlicht
am 14.07.2022
LebenInterview mit Sozialpädagoge Ivo Passler

„Diskriminierung? In fast jeder Klasse!“

Veröffentlicht
am 14.07.2022
Nach der Geschichte von Papa Dame Diop haben wir einen Sozialpädagogen gefragt: Woher kommt Rassismus in der Schule? Und wie spricht man mit Kindern darüber?
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Vergangene Woche berichtete BARFUSS von Papa Dame Diop. Der gebürtige Senegalese, der seit zehn Jahren mit seiner Familie in Bozen lebt und sich immer schon stark ehrenamtlich für die Stadt engagiert hat, verlässt Südtirol. Der Grund: Er will seine Kinder vor dem Rassismus schützen, denen sie in ihrer Grundschule bisher ausgesetzt waren.

Die Geschichte hat unsere Redaktion sehr getroffen, zumal wir schon oft über Papa Dame und seine Aktionen für die Stadt, wie etwa dem Plogging, berichtet haben. Sie hat bei uns die Frage ausgelöst: Wie kommt es, dass schwarze Kinder und Kinder mit Migrationsbiografie von Mitschülerinnen, Mitschülern oder Lehrpersonen immer noch rassistisch diskriminiert werden? Wie entstehen solche Denkmuster bei Kindern überhaupt? Und wie können Eltern und Bildungseinrichtungen sensibel mit dem Thema umgehen?

Einer, der darauf Antworten kennt, ist der Sozialpädagoge Ivo Passler. Er arbeitet am Schulsprengel Meran und Obermais, ist im Verein „Human Rights Initiatives“ tätig und betreibt dort mit seiner Partnerin Fouzia Kinyanjui Bildungsarbeit für Jugendliche und Erwachsene zum Thema Anti-Diskriminierung und Anti-Rassismus. Passler findet harte Worte für die rassistische Diskriminierung, die in seinen Augen an Südtirols Bildungseinrichtungen noch zu wenig bekämpft wird. Auch wenn seine starke Haltung oft auf Gegenwind in der Südtiroler Bevölkerung stößt, bietet er wertvolle Einblicke in eine Welt, die weiße Menschen oft nicht so vor Augen haben. Wir laden unsere Leserinnen und Leser ein, sich darauf einzulassen, und daraus Denkanstöße über den eigenen Umgang mit Rassismus mitzunehmen.

Ivo, hat es dich überrascht, dass Papa Dame Diop Südtirol verlässt, um seine Kinder vor rassistischen Übergriffen, denen sie in der Schule und im Alltag ausgesetzt waren, zu schützen?
Nein, nicht wirklich.

Hat deine Familie ähnliche Erfahrungen gemacht?
Rassismus ist in meiner Familie auch ein Thema, das leider den Alltag prägt. Gemeinsam leisten meine Lebenspartnerin und ich seit einigen Jahren Bildungsarbeit zum Thema rassistische Diskriminierung. Fouzia Kinyanjui ist Schwarze Frau, während ich weiß privilegiert bin. Wir sind Eltern zweier Schwarzer Mädchen. Auch in meiner Arbeit als Schulsozialpädagoge sehe ich Rassismus strukturell immer wirksam.

Sozialpädagoge Ivo Passler

Als ich in den Kindergarten ging, gab es ein Mädchen in der anderen Gruppe mit asiatischem Aussehen. Ich weiß nicht, ob sie aus China war, aber mit meiner besten Freundin sprachen wir über sie als „die Chinesin“ und machten uns insgeheim über ihre “Schlitzaugen” lustig. Ist das Rassismus?
Klares Ja. “Schlitzauge” wurde als Zuschreibung im Westen kreiert, um bestimmte Menschen als “Chines:innen” zu stereotypisieren, mit einer Reihe von angeknüpften rassistischen Vorurteilen. Dass bereits Kindergartenkinder sich dieser Sprachbilder bedienen, zeigt, wie mächtig rassistische Erzählungen sind.

Heute schäme ich mich für mein Verhalten und kann es ganz anders reflektieren als damals. Aber kann ich einem 4-jährigen Kind, das sich der Diskriminierung wohl nicht bewusst ist, Rassismus vorwerfen? Setzt Rassismus nicht ein bewusstes Handeln voraus?
Rassismus ist dazu geschaffen worden, um kriminelle Aktivitäten moralisch reinzuwaschen. Er ist der ideologische Überbau, um die Unterdrückung, Versklavung und Ermordung von Menschen und die Ausbeutung der von ihnen bewohnten Länder zu rechtfertigen. Dieses System wurde “nachhaltig” eingerichtet, weshalb es über Jahrhunderte hinweg heute immer noch greift. Menschen, die diskriminierend agieren – und ich schließe mich da nicht aus – machen das selten mit schlechtem Gewissen, sondern wir sind fast immer überzeugt, das Richtige zu tun. Oft verteidigen und rechtfertigen wir unsere rassistischen Handlungsmuster dann sehr hartnäckig.

Du meinst also, Rassismus passiert meist unbewusst?
Vor kurzem sang meine achtjährige Tochter mit ihren Freundinnen das Lied “Drei Chinesen mit dem Kontrabass”. Da habe ich sie gebeten, ein anderes Lied zu singen, weil dieses rassistisch wirkt. Meine Tochter hat gefragt, warum es denn rassistisch sei. Ich habe ihr dann erklärt, dass darin erstens die Sprache von diesen als chinesisch gezeichneten Kontrabassspielern veräppelt wird. Und zudem wird darin Racial Profiling normalisiert. Sicher hatten die Kinder dabei nicht bewusst rassistisch handeln wollen.

  • Racial Profiling meint ein diskriminierendes Verhalten von Sicherheitskräften, die Schwarze oder migrantisch aussehende Menschen aufgrund der Hautfarbe als “verdächtiger” einstufen, strenger kontrollieren oder häufiger nach den Ausweisdokumenten fragen.

Haben die Kinder deine Argumentation verstanden?
Kinder sind jung, aber nicht dumm. Daheim sprechen wir recht oft kritisch über Rassismus. Tupoka Ogette (eine bekannte Autorin und Anti-Rassismus-Trainerin) sagt dazu: Über Rassismus reden ist wie ein Muskel, den man trainieren muss.

Wenn ich Rassismus nicht beim Namen nenne, werden wohl auch meine Kinder Rassismus weiter verheimlichen und normalisieren.

In einem Experiment sollen Kinder Puppen mit diversen Hauttönen danach bewerten, welche die “Gute” ist. Für alle Kinder ist klar: die Schwarze ist die böse, die weiße die gute Puppe. Ab wann nehmen Kinder eine andere Hautfarbe, eine andere Augenform oder sonstige äußere Merkmale einer Herkunft wahr und verknüpfen sie mit Stereotypen?
Das Puppen-Experiment wurde in den 1940er Jahren in den USA zum ersten Mal durchgeführt. 2016 wurde es in Italien nachgemacht. Die Ergebnisse waren deckungsgleich. Das hat mich schon sehr geflasht! In dem Experiment wird klar sichtbar, dass Kinder schon im Kindergartenalter beginnen, Menschen aufgrund von Rassismus-relevanten Merkmalen wie Hautfarbton auf- und abzuwerten.

Aber Kinder werden doch nicht rassistisch geboren. Wie entstehen diskriminierende Denkmuster?
Zum Beispiel dadurch, dass Schwarze Menschen und andere Menschen of Color in den vorherrschenden Medien unterrepräsentiert und wenn dann meist sehr stereotypisiert dargestellt sind. Es ist sehr schwierig, Kindersendungen zu finden, wo Schwarze Mädchen eine positive Hauptrolle einnehmen. Der weiße Junge hingegen hat dauernd eine große Palette an Identifikationsfiguren. Wenn ich aber seltener Menschen in verschiedenen Rollen sehe, die mir ähnlich sehen, dann habe ich auch weniger Identifikationsmöglichkeiten. Wir Eltern und Pädagog:innen müssen uns auf die Suche nach Medien machen, die Vielfalt und Diversität fördern und auch Menschen aus marginalisierten sozialen Gruppen Möglichkeiten öffnen, um sich zu stärken. Wir wollen ja hoffentlich alle, dass auch Schwarze Kinder mit einem starken und positiven Selbstbewusstsein aufwachsen. Aber auch, dass Vorurteile bei uns selbst und bei weißen Kindern abgebaut werden.

Zurück zu meiner Kindergarten-Anekdote: Hätten meine Eltern gehört, wie ich mich damals über das asiatische Mädchen äußere: Wie hätten sie am besten reagiert?
Ich denke, wir müssen trainieren, über Rassismus zu sprechen, so wie Tupoka Ogette das anregt. Wie weit sind weiße Eltern bereit, die eigenen weißen Privilegien zu erkennen und Vorurteile zu hinterfragen? Anti-Rassismus-Arbeit beginnt ja bei uns selbst. Wenn ich Rassismus nicht beim Namen nenne, werden wohl auch meine Kinder Rassismus weiter verheimlichen und normalisieren.

Wie sprechen Eltern am besten mit ihren Kindern über Rassismus, dass es auch altersgerecht ist?
Ein wichtiger Schritt ist sicherlich, mit unseren Kindern rassismuskritische Bücher zu lesen und darüber zu sprechen. Es gibt schon einige davon im deutschsprachigen Raum. Ein guter Ratgeber für Eltern ist zum Beispiel das Buch “Gib mir mal die Hautfarbe”. Die Autorinnen leiten auch den Online-Shop “Tebalou”, wo Bücher und Spielsachen für Vielfalt, Diversität und Antidiskriminierung angeboten werden.

In fast jeder Klasse sind Kinder, die rassistische Diskriminierungserfahrung machen.

Auch Schulen haben die Aufgabe, Kinder- und Jugendliche für Rassismus zu sensibilisieren. Du arbeitest als Sozialpädagoge selbst an Schulen. Werden die Bildungsinstitutionen dieser Aufgabe gerecht?
Da gibt es eine große Unterrepräsentation von People of Color. In fast jeder Klasse sind Kinder, die rassistische Diskriminierungserfahrung machen, im Lehrkörper hingegen sind fast alle weiß. Das birgt die Gefahr, dass Lehrer:innen, Sozialpädagog:innen und Direktor:innen die rassistischen Machtverhältnisse nicht sehen, weil sie sie nicht selbst negativ erleben. Wir müssten uns diesbezüglich sensibilisieren, durch Eigenrecherche, Fort- und Weiterbildung. Die Berufsbilder der Sprachförder-Lehrpersonen und der Interkulturellen Mediator:innen gehören meiner Ansicht nach stark aufgewertet. Sie sind oft wichtige Bezugspersonen für Kids of Color und ihre Familien und haben oft selbst Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung. Sie sind potentielle Schlüsselpersonen für die Schulentwicklung im Bereich Diversität & Antidiskriminierung.

Ist Anti-Rassismus-Arbeit nicht Teil einer pädagogischen oder sozialpädagogischen Ausbildung in Südtirol?
In der Grundausbildung fehlt diesbezüglich, soweit ich weiß, noch vieles. Meine Partnerin und ich haben vor zwei Jahren erstmals ein zweitägiges Fortbildungsseminar für Lehrpersonen gestaltet. Dieses Jahr haben wir Schulsozialpädagog:innen zum ersten Mal einen kurzen Impulsworkshop zum Anti-Bias-Ansatz erhalten. Die Kindergärten sind vielleicht ein bisschen weiter, weil sie seit ein paar Jahren in Zusammenarbeit mit dem Verein “Kinderwelten” Anti-Bias-Seminare für ihr pädagogisches Personal anbieten. Die Teilnahme daran ist aber, soweit ich weiß, auch nur fakultativ. Wir stecken also erst in den Anfängen und viel muss noch gemacht werden, wenn wir Rassismus wirklich abbauen wollen.

Was macht die fehlende Sensibilisierung an Schulen mit den Kindern und Jugendlichen?
Rassismus kann so weiter bestehen und kreiert weiter Stress und Hürden für die Betroffenen. Ich denke, Betroffene entwickeln je eigene Strategien, um mit Rassismus umzugehen. Oft werden diese Resilienz-Strategien durch die Lehrpersonen und anderen Menschen, die an den Machthebeln sitzen, nicht als solche anerkannt, sondern pathologisiert oder kriminalisiert.

Nur Bücher zu lesen ändert unsere Gesellschaft nicht. Wir müssen die eigene Bewusstseinsarbeit in Aktionen umsetzen.

Eine Studie der Universität Mannheim aus dem Jahr 2018 untermauert deine These. Sie zeigt, dass Kinder mit türkischem Hintergrund schlechtere Noten für dieselbe Leistung erhielten.
Genau, die Max-und-Murat-Studie. Rassismus ist in der gesamten Gesellschaft systemisch verankert, also auch an der Schule. Lehrpersonen, die das N-Wort oder andere rassistische Fremdbezeichnungen benutzen und glauben, das sei OK – das passiert in Südtirol immer noch häufig. Auch rassistisches Lehrmaterial, wie stereotype Darstellungen in Schulbüchern, sind nach wie vor ein großes Problem.

Kannst du mir ein Beispiel geben?
Wenn an Schulen zum Beispiel “Entwicklungsprojekte für den globalen Süden” unterstützt werden, werden dabei oft immer noch Bilder von Schwarzen Menschen oder anderen Menschen of Color mit Themen wie Armut, Krieg, und Hilfsbedürftigkeit verbunden. Da werden alte, kolonialistische Machtstrukturen wieder und wieder aktiviert.

Was muss also passieren, damit es keine Diskriminierung mehr an Schulen gibt?
Es braucht immer den konkreten Willen von Menschen. Dann, so glaube ich, hat jeder und jede von uns die Macht, etwas zu ändern. Vor fünf Jahren hat sich eine Führungskraft in der Jugendarbeit stark dafür gemacht, dass ein Anti-Rassismus-Seminar stattfindet. Das wurde dann auch tatsächlich umgesetzt. Durch den Einsatz von dieser einen Person, die ihre Privilegien dafür genutzt hat.

Hast du Tipps für Lehrpersonen und andere pädagogische Fachkräfte?
Für uns weiß-privilegierte Personen ist es primär wichtig, Betroffenen zuzuhören, Rassismus-kritische Bücher besonders von Schwarzen Aktivist:innen zu lesen. Nur Bücher zu lesen ändert aber unsere Gesellschaft nicht. Wir müssen die eigene Bewusstseinsarbeit in Aktionen umsetzen. Das bedeutet, unsere Zivilcourage trainieren. Wenn sich Lehrpersonen im Lehrerzimmer rassistisch äußern und es keine starke Gegenrede gibt, ist das fatal. Zudem braucht es an unseren Schulen Beschwerdestellen für Betroffene von Diskriminierungen, wo sie wirklich Schutz, Respekt und Verbündete finden.

Hast du ein positives Beispiel aus deinem Arbeitsalltag?
Letztens habe ich mitbekommen, wie zwei Lehrpersonen eingegriffen haben, als eine Schülerin von Mitschülern rassistisch beleidigt wurde. Sie haben klar gesagt, dass das eine rassistische Diskriminierung sei und dass sowas in der Schule keinen Platz habe. Dass sie Rassismus beim Namen genannt haben und da ein klares No-Go! ausgesprochen haben, das fand ich sehr passend. In so einem Fall braucht es meiner Meinung nach erstmal keine “Mediation”, sondern Schutz für die Betroffenen und ein klares Stop! gegen Diskriminierung.

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