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Der Plan war einfach, die Umsetzung bedeutend schwieriger: Ich hatte einen freien Abend vor mir und wollte mich nach Langem wieder einmal einem guten Buch hingeben. Ein Buch, das keine Unilektüre, kein Klassiker ist, sondern einfach eines, mit dem man den Kopf für einige Stunden frei kriegen und in die Welt der Fiktion entfliehen kann. Doch: Fehlanzeige.
Schnell stand fest, dass das einfache Lesen aus Kindheitstagen mittlerweile zu einem Hürdenlauf gegen die Reize der Zeit geworden ist. Bereits nach den ersten zwei Seiten fange ich an, nervös mit dem rechten Fuß zu zucken. Mein Blick schweift ständig zum Laptop und das Gefühl, dass ich irgendwelche Mails checken, Freunden in Chats antworten oder einfach nur so über die Facebook-Wall scrollen muss, lässt mich einfach nicht los. Ich fange an, Sätze zweimal zu lesen, dann dreimal und schließlich den Faden ganz zu verlieren. Verzweifelt scheuche ich mein Gehirn mit festen Peitschenhieben zum Text zurück, doch launisch wie es ist, zwingt es mich immer und immer wieder dazu, meine Lektüre zu unterbrechen und etwas Anderes zu tun.
Ich kapituliere, lege das Buch zur Seite und fange an, die geöffneten Tabs auf meinem Computerbildschirm durchzuarbeiten. Die Reize kennen die Schwächen des kleinen Ypsiloners und sind wieder einmal stärker.
Doch nicht nur an diesem einen Abend war das so. Diese Reize überfluten mich tagtäglich von allen Seiten wie ein fetter Tsunami. War ich einst eine Wörter-Taucherin, die in den ruhigen Gewässern der Literatur mit gleichmäßigem Herzschlag nach neuen Schätzen tauchte, so schnappe ich heute nur noch verzweifelt nach Luft, während mich die Wellen der Reizflut immer und immer wieder überrollen. Ich drohe unterzugehen in den ganzen Buchstaben, Farben, Geräuschen, Emotionen und Informationen.
Mittendrin in dieser Flut wir Ypsiloner: ausgebildete Reiz-Jongleure und verzweifelte Informations-Selekteure.
Großgeworden im Zeitalter des Internets, kennen wir Ysis es nicht anders, als immer und überall von Informationen erdrückt zu werden. Von allem gibt es für uns zu viel und von nichts mehr zu wenig. Die Qual der Wahl ist in einem Ypsiloner-Leben wortwörtlich zu nehmen: Konnte man früher eine präzise Information im hauseigenen Lexikon nachschlagen, spucken Suchmaschinen heutzutage bei Eingabe eines einzigen Suchbegriffs hunderte von Resultaten aus. Statt drei Eissorten, wie früher, gibt es heute fünfzig. Statt fünf Studiengängen in der nächsten Stadt gibt es heute Millionen auf der ganzen Welt. Eissorten, Studiengänge, Handymarken, Internetseiten, Zeitungsartikel … Und überall lauthals schreiende und hell blinkende Werbungen dafür. Mittendrin in dieser Flut wir Ypsiloner: ausgebildete Reiz-Jongleure und verzweifelte Informations-Selekteure.
Widerstand wäre zwecklos. Denn sogar in den wenigen Minuten, in denen wir von einer U-Bahn-Station zur nächsten gondeln, werden wir von kleinen, in den Zügen installierten Informationskästen mit wichtigen Fakten, Zitaten und Nachrichten zugedröhnt. Es ist, als würde uns ständig jemand diese Informations-Happen tief in die Kehle stopfen, sodass das Verdauen langsam unmöglich wird.
Die Not treibt mich also zu einer Verwandlung: aus der entspannten Wörter-Taucherin wird eine gehetzte Informations-Surferin. Statt tiefgründig im Wissensmeer zu schwimmen, surfe ich an der Oberfläche und schweife wissensdurstig über die verschiedenen Seiten. Ich lese alles ein bisschen, aber nichts so richtig und bin am Ende gleich schlau wie vorher. Denn spätestens nach ein paar Tagen habe ich die Oberflächeninformation, die mir in fetten Tropfen während meines High-Speed-Surfens ins Gesicht geklatscht ist, eh schon wieder vergessen.
So oft sehne ich mich nach den Zeiten, in denen Eis-Essen noch die Wahl zwischen Erdbeere, Schoko und Zitrone bedeutete, in denen man mit Karten reiste und den Geruch von frisch bedrucktem Zeitungspapier lobte. Weil die ganze Information, die man kriegte, genau auf diesem einen Papier stand. Ich bin einfach nicht gemacht für diese Schnelllebigkeit, würde lieber die Slow-Motion-Taste drücken, anstatt den Aktualisierungs-Button. Würde gerne entschleunigen können, ohne dass zuerst der Stromausfall mein W-Lan kappen muss.
Reizüberflutung führt zu Stress, Hektik, aggressiven Reaktionen und schneller Erschöpfung, habe ich während meines letzten Surfens erfahren. Wahrscheinlich wollen wir Ypsiloner gerade deshalb back to the roots. Zurück zu den Wurzeln, den Tiefseetauchgängen. Dahin, wo es das Wort Reizüberflutung noch nicht gab und wo der wahre Reiz des Lebens schlummert.
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